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Ein Kalb namens Kyoto
Federicos Kirschen
Der Alte hat noch Hoffnung, die Jungen haben sie nicht mehr. Das Kyoto-Protokoll wird Abhilfe schaffen, ganz bestimmt, denn das legt Richtwerte fest, deren dauerhafte Überschreitung zum Abschalten von Kraftwerken führt. Nun ist es dran, das alte Ding von Kohlekraftwerk, das man aus jedem Fenster ragen sieht, und das Dorf wird wieder frisches Obst genießen können, die Tomaten aus dem eigenen Garten und die Ernte der wenigen Kirschbäume, die nicht längst an dem sauren Ascheregen eingegangen sind, der seit Jahrzehnten auf den Ort herabfällt. Ruhe wird sein und die Wäsche wieder draußen flattern.
Weil er so fest dran glaubt, tauft Federico sogar das Kalb seiner Nachbarin auf den Namen Kyoto. Und versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Hoffnungsträger den Weg zum Schlachthof nimmt, auf den seine Mutter geschickt wird, weil das belastetete Gras in der Gegend nicht mehr dazu taugt, sie zu ernähren. In der Gemeindevertretung kennt man Federico und seine Eingaben, im Dorf selbst sind sie seiner müde, schon weil das Kraftwerk dem einen oder andern Arbeit bringt. Und weil man Strom halt braucht, und sei es nur für den Cybersex im Internet. Denn mit dem echten Sex und seinen natürlichen Folgen will es nicht mehr so recht klappen, zumindest nicht bei allen. Das Kohlekraftwerk sorgt für Lärm und Ascheregen und dafür, dass sich die Kleidung elektrostatisch auflädt – und am Ende auch für Sterilität?
Das Nerón-Tal, in dem »Federicos Kirschen« spielt, liegt im Bergbaugebiet Asturiens. Und ist eigentlich nur Durchfahrtsort für einen schottischen Reiseführerautor mit eiligem Auftrag und ältlichen Wohnmobil – und mit Kindern an diversen Orten Europas. An die Atlantikküste soll er fahren, aber ein Motorschaden will es anders. Und bald will er auch gar nicht mehr weg. Mischt sich ein, schreibt Briefe an EU-Beschwerdestellen, schlichtet Streit und lernt die örtlichen Originale kennen. Er trinkt mit ihnen, hilft beim zivilen Ungehorsam, probiert das mit dem Sex und kauft Kyoto für Federico. Das Kalb, nicht das Protokoll. Das bleibt außer Reichweite und lange ohne praktische Folgen für die Gegend. Schon weil die Energieberater des Umweltministeriums sich lieber beratend in China herumtreiben, als im eigenen Land für umweltpolitische Ordnung zu sorgen.
Dann aber ist der Lärm plötzlich weg, das Kraftwerk still. Und im Dorf hängen sie wieder Wäsche raus und pflanzen neue Fruchtbäume. Die Tomaten werden rot und rund, und Fische im Fluss gibt’s auch wieder. Dann kommt der erste Stromausfall. Und dann geht das Kraftwerk wieder an. Und alles, so oder ähnlich, von vorne los. Der alte Mann sieht das Ende des Kraftwerks nicht mehr mit eigenen Augen. Ob Kyoto es noch erleben wird?
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