Das Öl verschwindet nicht einfach
Die Meeresbiologin Antje Boetius über die Langfristfolgen der Katastrophe und die Lehren daraus
ND: Wissen wir eigentlich genug über die Tiefsee, um in ihr Bodenschätze abzubauen?
Boetius: Das Problem des »Deepwater- Horizon«-Unfalls zeigt vor allem ein Problem der Entscheidungsfindung. Die Erschließung von Rohstoffen oder der Lagerraum im Meer ohne eine Risikobewertung und ohne die notwendige Technologie zum Eingriff bei Unfällen sollten nicht genehmigt werden.
Was sind die langfristigen Folgen dieser Katastrophe?
Die erste Sorge ist natürlich die tödliche Bedrohung von Vögeln, Meeressäugern und Fischen durch einen Ölfilm an der Meeresoberfläche. Wenn das derzeit noch weitgehend in der Tiefe befindliche Öl an die Küstengebiete oder gar in den Golfstrom treibt, werden riesige Flächen verschmutzt. Zudem kann die Dispersion mittels Chemikalien langfristig wahrscheinlich auch unangenehme Konsequenzen haben. Das Öl verschwindet ja nicht einfach. Es wird fein verteilt dem mikrobiellen Abbau unter Verbrauch von Sauerstoff ausgesetzt. Das kann zu weiträumigem Sauerstoffmangel in den Küstengebieten und in der Wassersäule führen. Der mittel- und langfristige Effekt von fein dispergiertem Öl und Chemikalien auf die Nahrungskette und die Meereshabitate ist weitgehend unbekannt. Nur weil wir das Öl nicht mehr sehen, heißt es nicht, dass nicht weiterhin langfristige Schäden für die Umwelt und lokale Wirtschaft in Louisiana befürchtet werden müssen.
Wie viel menschliche Eingriffe erträgt das Meer?
Das ist schwer hochzurechnen. 63 Prozent des Planeten sind Tiefsee, ein riesiger Raum mit einer unglaublichen Vielfalt des Lebens, von der wir nur einen winzigen Teil – weit unter einem Prozent – kennen. Viele der Tiefseelebewesen kommen regional begrenzt vor. Daher kann ein einziger Unfall zum Verlust von Arten führen.
Welche Auswirkungen hat es, wenn wir die Tiefsee kaputt machen?
Der Mensch hat jetzt schon diesen Lebensraum durch die Überfischung verändert; das hatte Konsequenzen für die Nahrungskette bis in die Tiefe. Die nächsten Bedrohungen sind die Erwärmung und Versauerung der Meere. Auch das sommerliche Abschmelzen des arktischen Meereises wird einen ganzen Ozean nachhaltig verändern. Wir können die langfristigen Konsequenzen für die globalen Prozesse und die Vielfalt des Lebens nur schwer abschätzen. Aber sicherlich werden unsere Kinder und Kindeskinder uns zur Rede stellen, warum wir so viele Arten und Habitate verloren haben, bevor sie entdeckt und beschrieben werden konnten.
Wie könnten solche Katastrophen künftig verhindert werden?
Eingriffe in Lebensräume, in denen Unfälle aus technischen und logistischen Gründen nicht kurzfristig unter Kontrolle gebracht werden können, sollten verboten bleiben. Das muss für das Meer ebenso gelten wie an Land, etwa in den Polarregionen. Wichtig ist, dass die Rechtsprechung berücksichtigt, dass es internationale Regelungen für international operierende Ölgesellschaften geben muss. Denn es nützt wenig, wenn sich Eingriffe in die Tiefsee vom Golf von Mexiko nach Afrika oder die Arktis verlagern. Natürlich sind bei weiterhin exponentiellem Bevölkerungswachstum technische Entwicklungen und die Erschließung neuer Ressourcen notwendig. Es ist aber nicht einzusehen, warum extreme Umweltrisiken eingegangen werden – und es keine Risikoabschätzung und Begleitforschung gibt.
Interview: Claudia Kohlus
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