Fußballfieber im südafrikanischen Winter

Unter Nelson Mandela wurde der Apartheidstaat zur Regenbogennation, er holte auch die WM ins Land

Martin Ling
Martin Ling

Kommt er oder doch nicht? Ja, er kommt. Die Freude bei den WM-Organisatoren war groß, als die lebende Legende Nelson Mandela fast auf den letzten Drücker Karten für das Eröffnungsspiel ordern ließ. Selbst der nicht gerade mit einem kleinen Ego ausgestattete FIFA-Präsident Joseph Blatter bekundet Ehrfurcht vor Südafrikas Nationalikone: »Nicht die FIFA hat entschieden, die WM nach Südafrika zu vergeben. Nelson Mandela, der größte Humanist und charismatischste Führer der Welt, war es, der die WM hierher geholt hat«, betonte Blatter in den vergangenen Tagen immer wieder.

Nun ist klar: Mandela wird auf der Ehrentribüne sitzen. Dabei hatte sein Enkel Mandla Mandela vor ein paar Tagen erst erklärt: »Ich habe mit meinen Verwandten beschlossen, dass es ein zu großes Risiko wäre, meinen eine Woche nach dem Finale 92 Jahre alt werdenden Großvater in den kalten Winter zu schicken, um ein Fußballspiel anzuschauen.«

Sein angekündigtes Nichtkommen hätte aber ebenso wenig an Nelson Mandelas Verdienst geändert, dass die WM 2004 nach Südafrika vergeben wurde, wie an seiner weit bedeutenderen Leistung, dass der Übergang vom Apartheidstaat zur Regenbogennation für Südafrika relativ friedvoll verlaufen ist. Als Geburt von letzterer gilt Mandelas historische Geste 1995 bei der Rugby-WM. Südafrikas erster schwarzer Präsident begab sich in die Umkleidekabine der fast ausschließlich aus Weißen besetzten südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft, streifte das Trikot des Spielführers über und schwor die Außenseitertruppe auf das Finale der Weltmeisterschaft im eigenen Lande ein – das erste sportliche Großereignis in der Nachapartheid-Ära.

Sensationell gewannen die Springboks – einst Symbol für Apartheid-Südafrika – gegen den haushohen Favoriten Neuseeland und bis heute gilt der Moment, als Mandela im Trikot der Rugby-Nationalmannschaft die Siegestrophäe dem weißen Kapitän Francois Pienaar überreichte, als große Geste der Versöhnung. Der befürchtete Bürgerkrieg zwischen Schwarz und Weiß konnte damals verhindert werden, wenn auch nicht ein Ansteigen der alltäglichen Gewalt, die pro Tag rund 50 Menschenleben fordert.

Die Tradition, vor Turnieren die heimische Mannschaft im Nationaltrikot in der Kabine zu besuchen und aufzumuntern, behielt Mandela auch 1996 bei der Afrikameisterschaft der Fußballer bei, die in den bisher einzigen Titelgewinn der »Bafana Bafana« (Die Jungs) beim Kontinentalwettbewerb mündete.

2010 wurde dieses Ritual zwar abgeändert, aber komplett ausfallen lassen wollte es der Friedensnobelpreisträger auch dieses Mal nicht. Im Trikot des Nationalteams empfing er das WM-Team acht Tage vor dem Eröffnungsspiel in den Räumen seiner Stiftung in Johannesburg und wünschte ihnen für die Weltmeisterschaft das nötige Glück. Kapitän Aaron Mokoena stellte Mandela die einzelnen Spieler sowie den brasilianischen Nationaltrainer Carlos Alberto Parreira vor.

Niemand will sich ausmalen, dass die Bafana Bafana als erste Heimmannschaft die Vorrunde einer WM nicht übersteht. Schließlich ist die Fußballbegeisterung groß, überall im Lande wird gekickt, ob auf staubigen Dorfplätzen oder in den Townships. Und keiner weiß, wie stark sich ein Scheitern Südafrikas auf die Stimmung des ganzen Turniers niederschlagen würde. Die Euphorie und Vorfreude ist riesig und entsprechend hoch die Fallhöhe.

Doch die Euphorie ist nicht überall. In einer monatelangen Kampagne wurden Bettler, Obdachlose, Straßenkinder und Prostituierte aus den Innenstädten in die Randgebiete gebracht.

Viele der Vertriebenen kommen aus den Nachbarländern auf der Suche nach einem besseren Leben. Bei Hilfsgruppen ruft die Kampagne Empörung hervor: »Unsere Grundrechte werden verletzt«, sagt Warren Whitfield von der Drogenhilfe Addiction Action Campaign. Er wirft den Behörden vor, aus Sorge um Südafrikas Image während der WM die Menschenrechte mit den Füßen zu treten. »Die Leute werden von den Straßen geräumt und in Asyle und Auffanglager gesteckt«, in denen sie kaum Hilfe erhielten, sagt Whitfield.


Für ND vor Ort in Südafrika

Von der WM berichtet Martin Ling. Der 43-Jährige ist Experte für Afrika, Lateinamerika und Entwicklungspolitik. Wenn er im ND über Sport schreibt, dann über spanischen oder lateinamerikanischen Fußball. Seit Kindheitstagen ist er glühender Anhänger des FC Barcelona, was er in der Redaktion durch das Tragen eines blauroten Schals zeigt. In der ND-Fußballmannschaft gibt Ling, der beim TSV Blaubeuren anfing, einen passablen Mittelstürmer.

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