Albert Ostermaier: Das wilde Herz schlägt Pässe in die Laufwege des Glücks

  • Lesedauer: 10 Min.
Zeit lässt nicht mit sich handeln. Aber wir können sie verwandeln in ein Gewebe aus betonten Momenten. Jetzt ist den Fußball-Verfallenen, im Absolutismus einer WM, ein sehr langer betonter Moment gegeben. Seit Langem ist der Dichter Albert Ostermaier – geb. 1967, einer der prägenden Lyriker und Dramatiker des Landes – auch ein Poet des Fußballs. Ostermaier, in seinem Leben ein Münchner, in seiner Leidenschaft ein Bayern-Münchner, stellte uns anlässlich der WM Gedichte zur Verfügung, die im Spiel den Kern der Existenz entdecken. Das Spiel als Da-Sein, auf dem man freilich nicht so eingängig zum Ziel kommt, wie Ex-Trainer Jürgen Klinsmann vor vier Jahren den Weg zum Weltmeistertitel beschrieb: »Kopf immer oben halten, Ball annehmen, passen, bum, bum.«

luftball für jorge valdano

y como las alternativas del juego/ se repiten y se repiten
J.L. Borges

das niedergetretene gras

richtet sich wieder auf du

ziehst die schuhe aus gehst

barfuss durch das frisch

gemähte grün wie das riecht

fängst zu laufen an und bist

ein kind die erinnerung

in den sohlen die schnitte

der halme die grasflecken

an den fussballen die wolke

spielt dir den ball zurück

das sehnen in die gespannten

sehnen die kugelwelt in die

drehung eines knöchels das

blutende knie der sonne

der du zwischen die beine

spielst so lang sie sich

auch macht am horizont

sie wird deinen ball nicht

erreichen du reisst die arme

in die luft und wirst nicht

als verlierer schlafen müssen

die himmelblaue decke über den

kopf das kissen zu einem ball

geknüllt wirst du mit heissen

wangen träumen und draussen

vor deinem fenster glüht das

gras noch immer von deinen

schritten und die nachtigallen

singen deine namen wenn

du einschläfst und das glück

dich berührt wie man einen

schlafenden liebkost und die

kleinen nimmermüden füsse

zeigen der nacht im schlaf

noch einmal all ihre zaubertricks

und noch heute wachst du

an den guten morgen auf mit

dem geruch von frischgemähtem gras

nachspielzeit oder: shakespeares missvergnügen

das ist die karte die mein spiel

verdirbt hexenkessel als würde

das helfen garstge hexen warum

zeigt ihr mir das warum rauche

ich so schnell wieviele züge sind

es noch jetzt nicht aschen drei

minuten dieser aberglaube bin

ich schuld gram dehnt die zeit

fair is foul and foul is fair hau

ihn weg kippe eine noch aber

wenn sie deshalb verlieren eine

noch oder besser nicht über links

die schachtel aus der linken tasche

holen letztes mal hatte ich sie

in meiner linken manteltasche

schwarze sau die pfeifen

aus dem letzten loch ich schrei

mir die lunge aus dem leib rot

hat er das nicht gesehen ich

hätte nicht dieses verdammte

hemd angezogen sondern das

andere ungebügelte mit den streifen

alles wäre anders spiel ab nein

I doubt some foul play bastard

das muss er nachspielen lassen

was ist der körper wenn sein

haupt ihm fehlt diese null nicht

auf die uhr schauen warum

stellen sie die uhr nicht ab helft

mir glück und raschheit mir frieren

die füsse ab warum bleibt er so

lange liegen ein rasen diene als

kissen oder was denkst du dir

steh auf den feind zu scheuen

da furcht die stärke hemmt das

gibt dem feind stärke in eurer

schwäche jetzt mach ihn rein ja

nein warum kann ich nicht mit

meinen fingern pfeifen oh welche

masse hässlich schnöder fehler

ich tue alles ich verspreche es alles

keine zigarette mehr gott wenn

wir gewinnen fuck schlusspfiff

zu spät vorbei ein vorhang vor

meinen augen die lider sind so

schwer warum sind sie nicht über

die flügel gekommen das habe ich

nicht verdient doch niemand heilt

durch jammern seinen harm you

never was singen sie da stand alone

sie singen ja noch ich singe sind das

tränen mancher schmerz ist heilsam

so ist dieser er stärkt die liebe was

solls ich bleibe sitzen was nicht

zu retten lass dem falschen glück

doch gib geduld für kränkung ihm

zurück wir kommen wieder die

zeit ist kurz geniesst sie noch in freuden

ode an scholl (für mehmet)

sein wildes herz schlägt pässe

in die laufwege des glücks

blind in die tiefe des traums

dass einem die augen überlaufen

unter seinen stollen werden

die grasnarben zu plattenrillen

was er spielt ist musik er dreht

sich täuscht an trance bei ihm

wird die welt zur scheibe er ist

der saphir der nicht zu fassen ist

keiner kann ihn halten nichts hält

den ball auf seiner elliptischen

flugbahn über die mauern

in den köpfen er trifft

in den winkel der netzhaut

dass ein feuerball aufgeht

aber er bleibt auf dem boden

zu oft in den boden getreten

zu oft wie ikarus mit wachs

auf den gliedern zu nahe

dem himmel spürt er die bässe

in den sohlen den tiefen drang

er wechselt die flügel und hebt

ab mit ideen gedankenblitzen

lässt die abwehrreihen ins

leere grätschen seine übersteiger

sind metaphysik zwischen den

seitenauslinien zieht er seine

zeilen ins unendliche er steht

abseits ohne im abseits

zu stehen mit seinen versfüssen

schreibt er auf dem rasen ein

gedicht dessen rhythmus ein

schrittmacher all den herzen

sein wird wenn sie mit ihm aus der reihe tanzen

der stein des anstoßes

man muss sich camus als einen

glücklichen torwart vorstellen

er hatte kein problem mit bällen

die an ihm vorbei über die linie

schnellen das gehörte für ihn zum

existentiellen sich nicht lang zu

quälen und die kugel aus dem netz

zu holen während die horden hinter

seinem rücken auf kosten seiner

diastolen unverholen höhnisch jolen

die seinen über ihn als blinden nölen

und die gegner sich mit ihren leibern

unter freuden ineinander knäulen

das spiel begann für ihn mit jedem

tor von neuem er hatte keine angst

vor elfmetern oder der hand gottes

in seinem strafraum versagt er sich

alles zetern so sehen wir nur wie

ein angespannter körper sich

anstrengt wenn er im eckigen das

runde fängt oder den schuss um die

stangen lenkt er ahnt dass alles nur

von ihm abhängt tragisch ist es aber

nur in den wenigen augenblicken

wenn er sich dessen bewusst wird

und statt zu spielen kluges denkt

denn der ball kommt nie aus der

richtung aus der man ihn erwartet

93 oder: herzspielstand

die zeit ist aus den fugen es ist

halb elf jeden tag um halb elf

blinkt seine armbanduhr er reisst

die arme in die luft legt die uhr ab

geht in die nächste ecke und legt

seine hände über sein gesicht

sinkt zu boden die stirn in die

handballen gepresst tränen in

den augenwinkeln trauerränder

um die wie bälle aufgepumpten

tränensäcke der du die zeit in

händen hast nimm auch diese

last und wandle sie in segen

man musste ihn wiederbeleben

er hält den atem an solange er

kann als tauchte er unter wasser

als wäre der glühende sonnenball

ins meer getaucht und er tauchte

mit ihm tiefer und tiefer umspült

von glückswellen gleitend inmitten

brennender schmeichelfische an

seinen zitternden flanken er floss

dahin als würden ihn hände durch

die menge tragen doch dann ein

schlag auf seine brust die faust

da schreckt er auf es treibt ihn

nach oben er schnellt durch das

wasser sein leben überholt ihn

die erinnerung er schnappt nach

luft und ist im dunkel ein schwarzes

fahnenmeer vor seinen augen

unter seinen schwitzenden

händen ein jegliches hat seine

zeit ihm fehlen jeden tag

drei minuten drei minuten

herzstillstand drei präkordiale

faustschläge und er war wieder

da und das spiel aus vier minuten

nach halb elf schlug er die augen

wieder auf und sein herz schlug

weiter es hatte nur für sie die roten

geschlagen er verzieh es ihnen nie

als sieger zu sterben und zurück

geholt zu erwachen als verlierer

drei minuten eine zigarettenlänge

ein langer kuss im regen sich in

den armen liegen den ball in der

luft halten drei minuten mit der

stirn den schulterblättern den

schenkel dem knie der hacke

der spitze drei minuten den ball

gegen ein garagentor schlagen drei

minuten wie lange wird seine

nachspielzeit gehen er schaltet

jedes spiel in der neunzigsten

minute aus seitdem verlässt das

stadium wenn die uhr umschlägt

er wurde ein zweites mal geboren

die mutter aller niederlagen holte

ihn zurück aus der tiefe des raums

nahm ihn in die zange ein strafstoss

dachte er zunächst zwei jahre später

hielten sie ihn fest als er gehen wollte

nach neunzig minuten ein spiel dauert

neunzig minuten sie liessen ihn nicht

aus als er den jubel hörte am ende

als sie einandern umarmten dachte

er jetzt sei er wieder tot doch die

verlorene zeit hatte zurück gefunden

und drehte dort unten auf der

aschenbahn ihre siegerrunden

manndecker oder: die Mannheimer Schule

ich trat auf dein knie jetzt schwoll es an

zu einem ball und ist so rund dass du

damit denken kannst das wollte ich

nicht mit dem feuerzeug aber der rasen

musste brennen diese leidenschaft auf

engstem raum zu verschieben vor und

zurück was stehst du so abseits ohne

meinen atem in deinem nacken du

musst zurück ins spiel finden dein

platz ist bei mir wohin du auch läufst

ich folge dir wie stürmisch du am

anfang warst und wie ausgewechselt

auf einmal du jetzt bist dein glück

nach dem spiel ist vor dem spiel ich

werde wie pech an dir kleben bleiben
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