Gerechtigkeit kennt keine Zeit

Untersuchungsbericht 38 Jahre nach dem »Bloody Sunday« in Nordirland

  • Gabriel Rath, London
  • Lesedauer: 3 Min.
Der offizielle Bericht über die blutige Niederschlagung einer republikanischen Demonstration in Londonderry 1972 ließ lange auf sich warten. Er war bereits 1998 von Premier Blair in Auftrag gegeben worden. Damals kamen 14 Menschen im Feuer der Armee ums Leben.

Wie kaum ein anderes Ereignis sind die Zusammenstöße am 30. Januar 1972 in Londonderry – für katholische Nordiren heißt es allerdings aus politischen Gründen einfach Derry – zum Symbol für die gewaltsamen Unruhen in Nordirland geworden. 13 Demonstranten starben an dem als »Bloody Sunday« bekannt gewordenen Tag, als britische Soldaten in eine unbewaffnete Menge feuerten. Ein weiterer angeschossener Demonstrant erlag Monate später seinen Schussverletzungen. 38 Jahre danach hat nun eine Untersuchungskommission am gestrigen Dienstag ihren Bericht vorgelegt.

Es war nicht nur die längste, sondern auch die teuerste Untersuchung der britischen Rechtsgeschichte: Fast 200 Millionen Pfund wurden ausgegeben, um die Wahrheit zu ermitteln. Hunderte Menschen wurden befragt, darunter auch die politischen und militärischen Verantwortungsträger von damals. Der Abschlussbericht der Juristenkommission unter Vorsitz von Lord Mark Saville umfasst mehr als 5000 Seiten und zehn Bände.

Die Einsetzung der Untersuchung war 1998 ein Zugeständnis des damaligen britischen Premiers Tony Blair gewesen, als er sich um einen Frieden für Nordirland bemühte. Blair sagte seinerzeit im Unterhaus: »Wir werden damit dieses schmerzvolle Kapitel für immer abschließen.« Eine erste Untersuchung unmittelbar nach dem »Bloody Sunday« hatte 1972 noch Öl ins Feuer gegossen, indem sie den Demonstranten vorwarf, die Schüsse der Armee durch Angriffe provoziert zu haben. In der Folge kam es zu einer weiteren Radikalisierung in Nordirland: Die republikanische Untergrundbewegung Irisch-Republikanische Armee (IRA) hatte starken Zustrom, London verhängt nach zahlreichen Gewaltakten im März 1972 die Direktverwaltung über die Provinz Ulster. Für die Republikaner wurde in all den Jahren der »Bloody Sunday« zu einem mächtigen Mythos.

John Kelly verlor damals seinen Bruder Michael: »Es ist wichtig, dass sein Name völlig reingewaschen wird«, sagt er. Michael war 17 Jahre alt und nahm erstmals an einer Demonstration teil. »Ich sagte ihm noch, das kann gefährlich werden. Aber er ließ sich nicht abhalten.« Wenige Stunden später war Michael erschossen.

John Kelly verlangt bis heute eine Bestrafung der Todesschützen: »Ich will Soldaten vor Gericht sehen«, sagt er. Damien Donaghey wurde am »Bloody Sunday« durch Schüsse verletzt, sein Cousin wurde getötet: »Nach all diesen Lügen, ist es nun Zeit, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.«

Genau das aber muss die britische Regierung fürchten: Sollte es zur Eröffnung von Gerichtsverfahren gegen britische Soldaten kommen, droht der fragile Friede in Nordirland aufs Äußerste belastet zu werden. Immerhin sitzt der damalige Einsatzleiter der IRA am Tag des »Bloody Sunday«, Martin McGuinness, heute als zweiter Mann in der Provinzregierung. Während die Republikaner seit dem Karfreitagsabkommen 1998 nach und nach amnestiert wurden, hielten es die Unionisten für eine Provokation, wenn sie nun für Taten aus den 70er Jahren ins Gefängnis müssten.

Bevor die Öffentlichkeit über die Erkenntnisse der Juristenkommission informiert wurde, durften Angehörige der Opfer den Bericht in Londonderry studieren. Jeder von ihnen trug ein Foto eines der Getöteten mit sich. Kay Duddy, deren Bruder damals erschossen wurde, brachte außerdem das Taschentuch das Priesters Edward Daly mit: Er prägte damals vor laufender Kamera verzweifelt das Wort »Bloody Sunday«. In der Vorwoche bekräftigte er: »Ich stehe zu meinen damaligen Worten.«

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