Derivate können Märkte ins Trudeln bringen

Mit spekulativen Finanzgeschäften lassen sich riesige Gewinne machen, aber auch Verluste / Teil 4

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Am 26. und 27. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zum nächsten G20-Gipfel im kanadischen Toronto. Kommt die Regulierung der Finanzmärkte nun endlich entscheidend voran? ND beleuchtet in einer Serie wichtige Mosaiksteine bei dieser Mammutaufgabe.
Den Weltrekord unter den Zockern dürfte der Exhändler der Großbank Société Générale, Jérôme Kerviel, halten. Der »Schöne Jérôme«, wie ihn der französische Boulevard taufte, hatte 850 000 Terminkontrakte auf den deutschen DAX und andere Aktienindizes abgeschlossen. Damit setzte ein einzelner Angestellter mehr als das gesamte Eigenkapital einer der weltweit wichtigsten Banken aufs Spiel. Unterm Strich verlor der damals kaum Dreißigjährige 4,9 Milliarden Euro seines Arbeitgebers. Die internen Kontrolleure der Société Générale wollen jahrelang nichts gemerkt haben und Kerviels Vorgesetzter gab zu, vom Handel mit »Derivaten« wenig zu verstehen. Die Großbank steht in einer langen Kette von Spekulationspleiten, die den Vorwurf erhärten, viele der modernen Finanzinstrumente sind zu kompliziert, so dass selbst Experten in Banken und Fonds nicht mehr durchblicken.

Dabei dreht sich fast alles um Terminkontrakte wie beispielsweise die populär gewordenen Leerverkäufe. Das »Leer« ist durchaus wörtlich zu nehmen: Händler spekulieren hierbei auf Wertpapiere, Währungen oder Aktien, die sie gar nicht besitzen und die sie sich höchstens ausleihen.

Anfang der 1990er Jahren hatte der Finanzjongleur und spätere Globalisierungskritiker George Soros so gegen die Bank von England gewettet und Milliarden gewonnen. Soros hielt damals das britische Pfund für überbewertet. Er lieh sich also (teure) Pfund und tauschte sie in andere (preiswerte) Währungen, hauptsächlich Deutsche Mark und Französische Francs um. Als diese danach immer teurer wurden und das Pfund Sterling immer preiswerter, triumphierte Soros. Die geliehenen Pfund konnte er leicht aus seinen Kursgewinnen mit D-Mark und Franc zurückzahlen. Kritiker warfen Soros vor, mit dieser damals kaum bekannten Spekulationsvariante den Sturz der britischen Währung erst ausgelöst zu haben. Soros bestritt dies: Auch ohne sein Zutun hätte die Währung aufgrund der Schwäche der britischen Wirtschaft an Wert verloren.

Weitgehend unbestritten ist mittlerweile, dass Derivate Finanzmärkte ins Trudeln bringen können. Doch wie Kreditausfallversicherungen, die in der Griechenland-Krise eine Rolle spielten, können auch Leerverkäufe als Sicherungsinstrument eingesetzt werden. Mittels derivativer Finanzinstrumente kann ein mecklenburgischer Schiffsschraubenhersteller oder ein Stuttgarter Elektronikkonzern seine Exporte gegen einen Kursverfall des Euro absichern. Und hier könnte sich auch die Scheidelinie zwischen »guten« und »bösen« Anwendungen finden: »Die rote Linie verläuft da, wo die Finanzprodukte keinen Bezug mehr zur Güterwirtschaft haben«, bringt es ein Vorstand der genossenschaftlichen DZ Bank auf den Punkt.

In Europa preschte die Bundesregierung im Juni vor und legte einen Gesetzentwurf vor, der zumindest »ungedeckte« Leerverkäufe in Deutschland verbietet. Bei diesen Geschäften leihen sich die Spekulanten die Wertpapiere nicht einmal aus. Kritiker halten das Gesetz allerdings für reine Symbolpolitik: Nur jede hundertste Währungsspekulation findet in Deutschland statt.

Allein eine internationale Regelung könnte das Spekulationsunwesen eindämmen. Die Linksfraktion im Bundestag fordert daher ein »vollständiges Verbot« von Leerverkäufen und Kreditausfallversicherungen. Dazu werden die Pariser Richter im Prozess um den »Schönen Jérôme« keinen Beitrag leisten können. Ihr Urteil wird für den 25. Juni erwartet.


Lexikon

Traditionell spekulieren Banken, Fonds und Reiche mit Aktien, Wertpapieren und Rohstoffen, die einen realen Wert verkörpern. Mit Derivaten (lat.: abgeleitet) werden jedoch Finanzgeschäfte abgewickelt, hinter denen oft nicht mehr steht als der Wille, Geld zu machen. Besonders gefährlich für die Stabilität der Finanzmärkte wird es, wenn Leerverkäufe oder Kreditausfallversicherungen auf Pump finanziert werden.

Der Großteil des Derivate-Geschäfts von 600 Billionen Dollar jährlich wird in Großbritannien, den USA und der Schweiz abgewickelt. Ob jedoch gerade gegen den Euro oder den ungarischen Forint spekuliert wird, weiß niemand genau, denn Derivate werden zu 80 Prozent außerhalb von Börsen direkt von Bank zu Bank gehandelt. Mehr Stabilität könnte daher eine organisierte Clearingstelle bringen, über die alle Derivate laufen sowie ein Finanz-TÜV, der ökonomisch unnütze Produkte rechtzeitig aus dem Verkehr zieht. hape

Teil 5 am 19. Juni: Finanztransaktionssteuer vs. Bankenabgabe

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