Feindschaft oder Versöhnung?

Inga Wolframs Buch »Verraten«, Joachim Gauck und die Frage, was wir uns zumuten

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Noch ein Buch über die Staatssicherheit? Noch mehr Schwarz-Weiß-Malerei und am Ende pure Dämonisierung? Ich habe »Verraten« von Inga Wolfram erst einmal liegen lassen – um es dann schließlich, mitten in der hitzigen Diskussion um Joachim Gaucks Kandidatur als Bundespräsident, doch zu lesen. Das Erstaunliche passierte: Es ist das Gegenteil eines Enthüllungsbuchs, eine Selbstbefragung der Autorin über ihr Leben in der DDR. Ein nachdenkliches, ein persönliches, ja sogar ein poetisches Buch, das kennen sollte, wer in der Versuchung steht, in einer absurder Verkehrung der Dinge Joachim Gauck zum Täter, Stasioffiziere und IMs aber zu Opfern zu machen.

Einer zumindest versucht das: Arnold Schölzel (heute Chefredakteur der »jungen Welt«), der Spitzel in einem Diskussionszirkel von Philosophiestudenten an der Humboldt-Universität Mitte der siebziger Jahre war. Bereits in dem Film, den Inga Wolfram vor einiger Zeit über ihre früheren Mitstudenten drehte, fiel er mit zynischer Unberührbarkeit auf. Nicht er sei der Verräter gewesen, sie selber hätten 17 Millionen verraten mit ihren romantischen Ideen von einem besseren Sozialismus, die am Ende doch nur dem Feind zum Sieg verholfen haben. Da zeigt sich, was in der Stasi-Diskussion der letzten zwanzig Jahre (und in dieser Engführung des Blicks liegt eine Mitschuld Joachim Gaucks) kaum vorkam: dass es bei all der Überwachung und Entmündigung der Bürger fast nie um Antikommunismus ging, auch nicht um die Abschaffung der DDR, sondern um einen Streit der Sozialismuskonzepte, um Reformansätze. Die regierende Betonfraktion aber, der Arnold Schölzel jederzeit eilfertig applaudierte, sah in jedem dieser Reformversuche den Feind in seiner schlimmsten Gestalt: als »Romantiker«.

Wer ist dieser Arnold Schölzel, der als IM André Holzer maßgeblich Informationen zu einer fünftausendseitigen Akte über Reform-Diskussionen (OV »Kreis«) zusammentrug, mit einer frappierenden Beflissenheit jahrelang jedes Gespräch aufzeichnete und weitermeldete? Und wer waren die, die er als »Staatsfeinde« mit tschekistischem Eifer denunzierte?

Ich erkenne in Inga Wolframs Buch das Institut für Philosophie wieder, obwohl ihre Zeit dort über ein Jahrzehnt vor meiner liegt. Aber die Zeit von 1968 bis Mitte der Achtziger war bleiern, es veränderte sich fast überall nichts. Denken ist Überschreiten, wie Bloch sagt, und dieses Überschreiten galt einer Ideologie, die am Ende all das, was in jenem Blochschen Sinne längst über sie hinweggegangen war, verbieten wollte.

Das Institut galt immer auch als eine bevorzugte Station für Kinder der Nomenklatura. Eine seltsame Atmosphäre herrschte. Einerseits war dies ein echter Ort geistiger Freiheit (die faszinierende Aura des Philosophiehistorikers und Bloch-Schülers Gerd Irrlitz!) und gleichzeitig eine ideologische Druckkammer. Das Bemerkenswerte dieses merkwürdigen Studentenmilieus war, dass sich nicht wenige der angehenden Philosophen überhaupt nicht für Philosophie interessierten, sondern hier die Zeit absaßen, bis sie dann in die für sie vorgesehenen Leitungsstellen und in jenen Apparat kamen, den man so allgemein wie zutreffend mit »Partei und Staat« umschrieb. Karrieristen am Start einer Funktionärslaufbahn einerseits und versprengte Einzeldenker andererseits. Dieses in sich gespaltene Milieu beschreibt auch Inga Wolfram in »Verraten«.

Inga Wolfram selbst ist die Tochter eines KPD-Funktionärs aus dem Moskauer Exil, wo immer Angst vor Denunziation und Verhaftung herrschte. Vor 1933 leitete er eine Zeit lang die Parteischule der KPD. Aufgewachsen erst in einer Villa in Karlshorst, dann in einer Sechs-Zimmer-Wohnung mit Haushälterin am Alexanderplatz in unmittelbarer Nachbarschaft Konrad Wolfs und eines österreichischen Pathologen, besucht Inga Wolfram eine russische Schule und kommt bereits mit sechzehn an die Universität. Der Vater stirbt an einem Herzinfarkt, nachdem das Fernsehen ihn über die KPD-Schule interviewte, aber nicht hören will, was er zu sagen hat. Kurz vor seinem Tod fordert er von seiner Tochter, nie in die SED zu gehen: »Das ist keine sozialistische Partei!«

Ähnliche Erfahrungen machten auch die anderen sechs Studenten der sich konspirativ treffenden Gruppe, die sich von den »verdorbenen Greisen« (Wolf Biermann) nicht ihr Bild von Sozialismus vorschreiben lassen wollten. Viele von ihnen sind Kinder von Verfolgten des Naziregimes. Wolfgang Templin, Sohn eines russischen Militärarzts, war »Parteiguppenorganisator« und als IM angeworben – er offenbarte sich in der Gruppe. Jan Lautenbach und Dieter Krause waren Funktionärskinder, Klaus Wolfram kam aus einer Künstlerfamilie, und Sebastian Kleinschmidt war der Sohn von Karl Kleinschmidt, Domprediger in Schwerin und christlicher Sozialist. Alle sahen sie, wie ihr Bild vom Sozialismus sich von der Realität der DDR immer weiter entfernte.

Nur der siebente in der Gruppe, Arnold Schölzel, Sohn eines Beamten in Westdeutschland, während seines Wehrdienstes desertiert und in die DDR geflohen, fiel aus dem Rahmen dieser gemeinsamen Erfahrung. Für ihn war mit Hegel allein der Staat die Verkörperung der Idee, ihm ging es um die Machtfrage. So erlebte auch ich ihn als wissenschaftlichen Assistenten am Institut: einer, in dessen Gegenwart man besser aufpasste, was man sagte. Seltsam, wie dieser weichlich-linkische Mensch, der sehr belesen war und die Texte, über die er sprach, genau kannte, so machtfixiert sein konnte. Ein für uns unfassbar linientreuer Parteisoldat, der zu den größten Dummheiten, wenn sie seine Partei beging, jedesmal nickte.

Durch seine Denunziation wurden die Mitglieder der Gruppe sämtlich verhaftet. Auch Schölzel selbst, der nicht dekonspiriert werden sollte.

Als Klaus Wolfram Anfang der 90er Jahre bei der von ihm mitgegründeten Zeitung »die andere« die Namen von tausenden IMs veröffentlichte, erschien Arnold Schölzel, immer noch Mitarbeiter des Instituts für Philosophie, und übergab einen Brief, in dem stand, er werde zu Unrecht verdächtigt, für die Staatssicherheit gearbeitet und seine Freunde verraten zu haben. Man solle diese Behauptung besser unterlassen. Nur waren die Akten doch nicht so vollständig vernichtet worden, wie mancher IM gehofft hatte. Und so wurde bald nachgewiesen, dass Arnold Schölzel als IM André Holzer einer der eifrigsten Berichteschreiber und anonymer Anschwärzer an der Humboldt Universität war.

Ohne den Zugang zu den Unterlagen der Staatssicherheit hätte es solch Aufklärung als ein Öffentlichmachen nicht geben können – bei allem Missbrauch, der auch mit diesen Akten verbunden ist.

Über die Gruppe sagt Schölzel nun zu Inga Wolfram, sie gehöre zu denen, die die DDR mit zugrunde gerichtet habe: »...solche Leute, die ein geistiges Netzwerk geschaffen haben, das die DDR gründlicher zerstört hat als bestimmte politische Entscheidungen. Ich meine damit politische Romantik.« Eine verbreitete Auffassung in Kreisen, die eine gut funktionierende Diktatur immer noch als oberste Verkörperung der Idee des Sozialismus anzusehen scheinen. Und so huldigt Arnold Schölzel heute jenem selbst ernannten Klassiker, Peter Hacks, der in seinen letzten Lebensjahren nur noch durch martialische Geschmacklosigkeiten von sich reden machte. Mörderträume von Intellektuellen. In einem ehrfürchtigen Text zu Peter Hacks schreibt Schölzel 2003: »Hacks nennt auch Praktisches: Erwogen wird in einem ›Jetztzeit‹-Gedicht, diverse Leute in einem Dahmesee zu ertränken, in einem anderen zu Spenden für eine Guillotine auf dem Berliner Leninplatz aufgerufen, um von Krause und de Maizière über Böhme, Thierse, Schnur und Stolpe rascher Abschied nehmen zu können.« Die ewige Versuchung ohnmächtiger Intellektueller: Endlich nicht mehr nur denken müssen, sondern zuschlagen, bis Köpfe rollen.

Von hier aus versteht man dann auch Hermann Hesses Gedicht »Absage« von 1933 besser: »Lieber von den Faschisten erschlagen werden/ Als selber Faschist sein!/ Lieber von den Kommunisten erschlagen werden/ Als selbst Kommunist sein!«

Warum soll einer, der die Widersprüche der ostdeutschen Geist- und Ideologiegeschichte – auch in ihren Beschädigungen und Beschränkungen – so wie wenige andere verkörpert, jener vielgehasste Joachim Gauck, eigentlich nicht Präsident einer von Parteienkalkülen und Finanzkalkulationen beherrschten Ost-West-Republik werden? Eine Zumutung? Gewiss, aber vielleicht eine für alle Beteiligten fruchtbare.

Inga Wolfram: Verraten. Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum, Artemis & Winkler, 306 S., geb., 19,90 €.

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