Berufsanfänger mit Mitte Vierzig
Der Lehrerberuf in Deutschland vergreist, doch der Nachwuchs wird in vielen Bundesländern verschreckt
Pädagogen wie Kathrin Nitsche sind eine seltene Erscheinung in deutschen Lehrerzimmern. 29 Jahre ist die Berliner Grundschullehrerin alt. Sie gehört damit zur Minderheit von knapp vier Prozent der Lehrkräfte in Deutschland, die jünger als 30 Jahre sind. In ihrer Schule, einer Grundschule im Berliner Bezirk Neukölln, ist sie das Nesthäckchen unter den 26 Lehrkräften. Die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen sind bereits 55 oder älter.
Der Berufsstand des Lehrers in Deutschland vergreist: Fast 30 Prozent der Pädagogen an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen sind nach Angaben des Statistischen Bundesamts mittlerweile älter als 55. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland eine Spitzenposition ein: Knapp die Hälfte der Lehrer sind älter als 50, im europäischen Schnitt beträgt diese Quote lediglich rund 25 Prozent. In der Praxis sieht das dann so aus: Bis Kathrin Nitsche vor gut zwei Jahren an die Schule kam, gehörte ihre Kollegin Marion Noack mit ihren damals 44 Jahren zu den Küken im Team. »Die mittlere Generation der Mittvierziger ist an den Schulen nur schwach vertreten«, meint die Chefin der beiden, Hildegard Greif-Groß (54).
Die Überalterung hat dramatische Folgen: Seit Jahren ist der Pensionierungsstand gleichbleibend hoch. 2007 wurden knapp 19 600 verbeamtete Lehrkräfte pensioniert, 2008 waren es mit 19 500 kaum weniger. Vor zehn Jahren gingen nur halb so viele Lehrerinnen und Lehrer in den Ruhestand. In den kommenden Jahren, schätzt Ilse Schaad vom GEW-Bundesvorstand, wird die Zahl deutlich steigen. Ähnlich ist die Entwicklung bei den angestellten Lehrern. Gleichzeitig fehlt es an Nachwuchs. Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm schätzt den jährlichen Fehlbedarf für die nächsten fünf Jahre auf bis zu 5000 Stellen jährlich.
»Den Bundesländern fällt ihre Kürzungspolitik aus der Zeit nach der deutsch-deutschen Vereinigung auf die Füße«, kommentiert Ilse Schaad diese Zahlen. Damals sei beschlossen worden, die finanzielle Ausstattung der Schulen auf das Niveau der 1980er Jahre einzufrieren, sagt die Leiterin des Arbeitsbereichs Angestellten- und Beamtenpolitik beim GEW-Bundesvorstand. Erreicht haben dies die Länder zu Lasten der Unterrichts- und Arbeitsqualität – u.a. wurden die Pflichtstundenzahl für die Lehrkräfte sowie die Klassenfrequenzen erhöht. Vom folgenden Stellenabbau war vor allem der Osten betroffen, wo die Ausstattung zu Beginn der 1990er Jahre noch vergleichsweise gut war. »Deshalb vergreisen dort die Lehrerkollegien besonders schnell«, sagt Ilse Schaad.
Die Überalterung führt in allen Schulstufen zu Problemen, besonders jedoch in der Mittel- und Oberstufe, ergänzt Norbert Gundacker. Der stellvertretende Berliner GEW-Landesvorsitzende arbeitete bis zu seiner Freistellung als Personalrat an einer Hauptschule. »Wenn man auf die 60 zugeht, traut man sich körperlich nicht mehr so viel zu«, sagt er. Fahrradtouren, Ausflüge, aber auch Betriebserkundungen fallen dann flach. »Gerade für die oftmals schwierige Schülerschaft an einer Hauptschule sind solche Aktivitäten allerdings wichtig«, betont der Pädagoge die Notwendigkeit des Einsatzes von jüngeren Kollegen.
Ein großes Problem ist seiner Ansicht nach der Übergang zwischen Beruf und Ruhestand. Seit dem 1. Januar dieses Jahres gibt es für angestellte Lehrer keinen Rechtsanspruch mehr auf Altersteilzeit. Der Jahrgang 1949 war daher auch in Berlin der letzte, der davon in vollem Umfang profitierte, bedauert Gundacker. »Wir Personalräte erhalten immer wieder Anrufe von älteren Kollegen, die verzweifelt nachfragen, ob es diese Regelung zukünftig wieder geben wird«, berichtet er. Doch an eine Wiedereinführung der Altersteilzeit denkt der Berliner Senat derzeit nicht. Schulleiterin Greif-Groß blickt daher mit ein klein bisschen Sorge in die Zukunft: Zur Zeit kann sie frei werdende Stellen noch gut besetzen, ob das aber noch so sein wird, wenn in zehn Jahren das Gros ihrer Lehrer auf einmal aufs Altenteil verschwindet, weiß sie nicht.
Ein gleitender Übergang in den Ruhestand wäre schon allein deshalb sinnvoll, um die Arbeitsbelastung zu kompensieren. Rund 50 Prozent der Lehrer fühlen sich laut der »Potsdamer Lehrerstudie« überfordert und ausgebrannt. Ein Team unter Leitung von Uwe Saarschmidt untersuchte mehr als zehn Jahre lang die psychosoziale Belastung von knapp 8000 Lehrern. Ergebnis: In keiner anderen vergleichbaren Berufsgruppe ist das sogenannte Burnout-Syndrom so weit verbreitet wie unter Lehrern; Feuerwehrleute, Polizisten, Sozialarbeiter und Ärzte sind trotz erheblicher beruflicher Belastungen stressresistenter und zufriedener mit ihrer Tätigkeit. Von permanenten Überforderung betroffen sind vor allem Lehrer jenseits der 50. »Der Krankenstand in dieser Altersgruppe ist sehr hoch«, berichtet Norbert Gundacker, und er ist sich sicher: »Das wäre auch eine Chance für eine Verjüngung der Kollegien.«
Doch die Belastung macht auch schon Jüngeren zu schaffen. »Wenn ich heute nach der Schule nach Hause komme, brauche ich etwa eine Stunde Ruhe, also kein Radio, keine tobenden Kinder, um mich zu erholen«, berichtet die 43-jährige Heike Gutsche. Seit mehr als 20 Jahren ist die Pädagogin bereits im Schuldienst. »In dieser Zeit haben die Belastungen zugenommen«, sagt sie. »Als ich angefangen habe, hatte ich 23 Wochenstunden Unterricht, verteilt auf sechs Tage, heute sind es 28 Unterrichtsstunden, verteilt auf fünf Tage. Vor zwei Jahren stand ich schon kurz vorm Burnout und weiß von vielen meiner ehemaligen Studienfreunde, dass es ihnen ähnlich geht.«
Regelungen für die Altersteilzeit und bessere Arbeitsbedingungen helfen beim Generationswechsel in den Schulen jedoch nur bedingt. Vielerorts wird der Lehrernachwuchs regelrecht verschreckt. Der Berliner Schulsenat etwa setzt seit Kurzem auf Quereinsteiger, um »frisches Blut« an die Schulen zu holen. Damit werde der Lehrerberuf für den Nachwuchs alles andere als attraktiv gemacht, empört sich Norbert Gundacker. Er berichtet von Gymnasien, an denen der hohe Krankenstand mit Ruheständlern kompensiert wird. »Manche Einser-Absolventen müssen in Berlin mit befristeten Verträgen Vorlieb nehmen, anstatt eine feste Anstellung zu erhalten«, kritisiert Gundacker. Auf Dauer werden so Junglehrer der Stadt und möglicherweise auch dem Beruf den Rücken kehren, befürchtet der GEW-Experte.
Die stellvertretende GEW-Bundesvorsitzende Marianne Demmer geht in ihrer Kritik an der Einstellungspolitik der Länder noch weiter: Durch den faktischen Einstellungsstopp der letzten Jahrzehnte seien Lehrer »auf Halde« produziert worden, kritisiert sie. »Heute werden aber von den Ländern händeringend Lehrer gesucht und dann bewerben sich halt auch die über 40-Jährigen für eine Erstanstellung.« Eine gesunde Altersmischung der Kollegien erreiche man damit nicht. Heike Gutsche bestätigt: »Neulich hatte ich eine Praktikantin, die war älter als ich, das hat die Zusammenarbeit nicht unbedingt erleichtert.«
Heike Gutsche macht allerdings auch die Ausbildung der Lehrer für die Misere mitverantwortlich. Durch eine praxisnahe Ausbildung gäbe es weniger Abbrecher und jüngere Berufseinsteiger, ist sie sich sicher. »Das Referendariat gehört abgeschafft«, fordert sie. In der Tat sind die Zahlen, die Klaus Klemm im letzten Jahr in seiner Studie für die GEW zum Lehrerbedarf vorgelegt hat, alarmierend: Nur etwa 60 Prozent der Lehrerstudenten beenden überhaupt ihr Studium, weitere 10 Prozent geben im Referendariat auf.
Eine Abschaffung des Referendariats wäre jedoch keine Lösung, wendet die GEW-Schulexpertin Marianne Demmer ein. »Ob man mit 26 oder 24 ins Berufsleben startet, ist weniger wichtig«. Die stellvertretende GEW-Bundesvorsitzende mahnt aber ebenfalls Veränderungen bei der Lehrerausbildung an. Die Universitäten müssten Verfahren zur Selbstevaluation der Studierenden schaffen, damit diese Fehlentscheidungen in der Berufswahl frühzeitig korrigieren können. Eine Patentlösung sei das allerdings nicht, schränkt Demmer ein. Letztendlich sei Unterricht in der Schule eine handwerkliche Tätigkeit, in der Erfahrung zähle.
Das sieht auch Kathrin Nitsche so. Sie unterrichtet zusammen mit einer der ältesten Kolleginnen ihrer Schule, einer 62-Jährigen. »Die ist im Kopf jünger als so mancher Junglehrer«, betont Nitsche. Sie profitiere vor allem vom reichlichen Erfahrungsschatz der Älteren. »Die ist in Stresssituationen viel gelassener als ich«, lobt die Junglehrerin.
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