Einwürfe, Fußnoten
Fußball-WM (19)
ALLES, WAS WIR wahrnehmen, ist uns Anlass, das eigene Bewusstsein in Vollbeschäftigung zu halten. Wir entkommen der Nichtigkeit der Existenz, wenn sie uns denn einmal erschütternd bewusst geworden ist, einzig durch Selbststeigerung – und die hat ihre Kommandobrücke im Kopf. Dort ist die Welt, die man die eigentliche nennen könnte. Unsere Fantasie macht uns Angst, aber sie macht uns. Und so wird uns alles Reale zur Gelegenheit, es weiter, anders, spannender zu denken. Weiter als in unseren Vorstellungen bringen wir es nicht. Das ist der schöne Trost.
Am späten Sonnabend war Gelegenheit für den leider unguten, aber sehr realistischen Gedanken, dass der Unhold oft genug der wahre Held ist. Uruguays Suárez stoppt auf der Torlinie, in der letzten Minute der Verlängerung, einen sicheren Torschuss Ghanas mit der Hand. Die Kameras verfolgen seinen Weg in die Katakombe des Stadions, und wir sehen einen beinahe schreienden Schuldigen, den die Selbstvorwürfe plagen – obwohl er doch das Beste wollte, nämlich ein Tor verhindern. Aller Voraussicht nach würde der fällige Elfmeter für Ghana Uruguays Schicksal besiegeln: Aus fürs Halbfinale – Ghanas Gyan hätte quasi den Sieg in der Hand gehabt, die Suárez hingehalten hatte. Gyan aber schießt zu schwach, Abpfiff. Elfmeterschießen für beide Mannschaften. Ghana verliert. Der Rest steht auf den Sportseiten der Zeitungen.
Und jetzt sah man am Fernseher, wie einige Südamerikaner, diese Davongekommenen, zuerst den wieder hervorgekommenen Hand-Sünder Suárez, dann erst ihren Torwart Muslera umarmten. Der Regelverletzer ist plötzlich der Held. Mephisto sagte von sich, er sei ein »Teil von jener Kraft, die stets das Gute will, und stets das Böse schafft«. So ist es hier auch, zunächst. Ein Handspiel will Gutes tun und hat böse Folgen. Bis sich für den Verursacher alles umkehrt.
Die Realität ist eben vertrackter als Goethe. Weil die Gerechtigkeit, der mit einem Elfer für Ghana eine Chance eingeräumt ward, zu fahrig handelt, darf der Böse folgerichtig zum Retter werden. Der Judas macht den Jesus. Wie viel Niedertracht verträgt, ja braucht die Durchsetzung eines hohen Ziels? Wie viel Härte das Gute? Wie viele Lügen darf, muss sich die Wahrheit leisten, um durchzukommen? Wie viel Strenge die Fürsorge?
Furchtbare Steigerung des Gedankens: Die Täter machen die Opfer. Und sie zu Helden. Ghanas Staatsoberhaupt wird noch in der Nacht verkünden: »Unsere Trauer über diese Niederlage, das Mitleid mit unserer Mannschaft wird vielleicht weit mehr warme, ehrenvolle Gefühle hinterlassen, als es ein Sieg vermocht hätte.« Auch die tiefste Getroffenheit hat ihren Zweckzynismus.
ÜBER DER MÜHE, sich das Leben schön vorzustellen, leidet die Fähigkeit, sich das Leben schön zu machen. Das gehört zur Tragik der kritischen Vernunft. Sie hat kein sinnliches Verhältnis zum Irrationalismus. Sie setzt zum Beispiel das Massenfieber für kickende Millionäre gern ins anklagende Verhältnis zur Zurückhaltung just dieser Masse, wenn es um die soziale Not und das gesellschaftliche Elend auf der Welt geht.
Da wird also der Kopf geschüttelt über die Versammlungsfreude der Leute auf Fanmeilen, bei gleichzeitiger Unlust zur politischen Demonstration. Das Volk geht nicht mehr für die wahren Ziele auf die Straße. Und am Ende, verzweifelt über die Rauschlust der Menge und traurig über die Einsamkeit, mit der sich das soziale Engagement durch die Welt kämpfen muss, am Ende wünscht sich die richtende Vernunft wenigstens, die millionenschweren Fußballspieler mögen doch gefälligst ihre Prominenz verstärkt einsetzen für die Verbesserung der Welt. Podolski an die Spitze jeder DGB-Kundgebung? Lahm ins Hauptkomitee des Generalstreiks? Friedrich als Sprecher wider den Krieg in Afghanistan? Und warum setzt sich Klose nicht öffentlich für die Abschaffung von Hartz IV ein?
Solch Sehnen ist rührend, lauter, aber doppelter Betrug. Es ist Betrug an der Wahrheit der sozialen Idee, die man demütigt, indem man ihr die Clownsnase aufsetzt. Als brauche das Gute die lockende Maske. Als hätte die Gerechtigkeit nur eine Chance, wenn die Forderung danach unterhaltend daherkommt. Brot für die Welt gibt’s nur, wenn Fernsehgesichter drum bitten – das ist Dienst an den Fernsehgesichtern, aber nicht wirklich Arbeit daran, den Hunger zu stillen. So verkommt, was die Vernunft reklamiert, zur Reklame.
Der zweite Betrug besteht in der Absage an den Menschen, der überzeugt, aktiv gemacht werden soll. Von ihm wird resiginierend angenommen, er sei verloren – an den Reizüberschuss, ans Ablenkungsmanöver der Jahrmärkte. Ihm wird nicht mehr zugetraut, aus eigenem Denken zur Idee des Weltguten vorzustoßen, es gibt keine Geduld mit ihm, dabei dauert alles erst zweitausend Jahre. Nein, Schuster bleib bei deinen Leisten; Schweinsteiger, bleib bei deinen Leistungen. Die Demokratie hat Grass – Fußballers Ort, uns für Momente zu berauschen, ist das Gras. So wie Schauspielers Ort die Bühne ist und Applaus ebenso sein Brot wie das jedes Gauklers.
Abgesehen davon, dass zur Dialektik der Welt inzwischen gehört, dass Mercedes mehr für den Umweltschutz tut als mancher ehrgrau gewordene Grüne und mehr Profisportler charitativ tätig sind als vermutet – Fußballfieber darf unbekümmert frei sein von schlechtem Gewissen! Sportfieber ist Spaß an der Welt, das nicht dauernd vom kühlen Verstand niedertemeperiert werden will.
Da wir vom Affen abstammen und gleichzeitig die metaphysische Bedürftigkeit entwickelt haben, gottähnlich zu werden, werden wir so sagt es der Schriftsteller Hartmut Lange, vom Affen nie ganz loskommen, aber auch Gott nie ganz erreichen. Der Affe will Zucker, und der versüßt die saure Tatsache, dass die Vernunft manchmal auch verflucht langweilen kann. In uns leben Wildnis und Zivilisation gleichermaßen. Man darf heftig gegen Merkels Politik sein, aber ich lasse mir Fußball nicht durch den Gedanken verderben, er solle ablenken von dieser Politik. Ich sehe die Notwendigkeit von Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Autobahn ohne jeden Einwand ein – aber man muss mich ab und zu blitzen. Ich empfinde den Tierschutz als große humane Kraft – und kann doch nicht lassen vom Steak. Wer mag im Kino beim Anblick von Dustin Hoffman fortwährend daran denken, dass der für Höchsthonorar in einem Produkt des größten kapitalistischen Unterhaltungskonzerns spielt. Nicht ein einziges Mal möchte ich daran denken. Was aber nicht heißt, deshalb unkritisch gegenüber kapitalischer Profitmacherei mit dem menschlichen Unterhaltungsbedürfnis zu sein. Schön kompliziert das alles.
Wer sich widerspricht, kommt der Wahrheit näher. Die bekanntlich – und jetzt vor allem! – auf dem Platz liegt.
GHANA UND GEWISSEN. Und kein Wort zu Deutschland? Wir sind im Halbfinale! Aber dem Feuilletonisten fällt nur Schweigen ein. Denn wenn alles so ist, wie man es sich wünscht, entsteht kein Kommentar. Die wahre Muse wäre der Mangel. Der Fußball dieser deutschen Mannschaft macht in seiner fließenden Eleganz sprachlos. So wenig Mangel. Dafür so viel Klose und Schweinsteiger und Lahm. Tore! 8:1 gegen England und Argentinien. »Spielen und gehen« ist der methodische Hauptsatz von Joachim Löw: sich weiter bewegen, wenn der Ball abgespielt ist; in Räume stoßen, in denen noch kein Ball ist, wohin er aber kommen könnte, wenn die anderen ebenso denken.
Natürlich haben kluge Kritiker schon wieder die Gefahr herausgefunden: Deutschland habe in den ersten zwanzig Minuten der zweiten Halbzeit »nicht gespielt«, sondern sich einschnüren lassen – wie im Spiel gegen England. Toll, nun wird gleich auch noch das Perpetuum mobile verlangt. Einschnüren lassen! Wieviel Tore haben denn in dieser Phase die Gegner geschossen?!
Im Suhrkamp-Band »Titelkampf – Fußballgeschichten der deutschen Autorennationalmannschaft« kommt auch Uli Kuper vor. Es heißt, er habe Philosophie studiert und dann eine Karriere als Sportjournalist begonnen. Nachdem er auf die Frage an Sportler, »Woran hat's gelegen?«, immer nur die Antwort erhalten habe: »Es hat halt nicht sollen sein!«, gab er diese Karriere wieder auf und ist nun Autor bislang unveröffentlichter Erzählungen. Er schrieb ein Gedicht, das reimtechnisch nicht gerade Kunstdribbeln ist – was jedoch durch Leidenschaft ausgeglichen wird: »Das Wesentliche«, ein Motto gegen Spanien: »Elf Freunde sollt ihr sein,/auf dem Platz, nicht Hirsche,/ verschieben, erobern und hinein,/ das Wesentliche, nicht Worte – die Kirsche!«
»Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber.« So schrieb Heiner Müller, der Dichter, der uns fehlt, und wir gestatten uns, aus aktuellen Anlass die Hände durch Füße zu ersetzen. Und Achtung jetzt!; es folgt ein himmelschreiend aufgesetzter, also unintelligenter, aber leider Wahrheit aussprechender stilistischer Übergang: Ja, Müller fehlt uns. Aber im Halbfinale fehlt uns Thomas mehr als Heiner.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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