Einwürfe, Fußnoten

Fußball-WM (21)

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

WER FUSSBALL WILL, muss zwei entsetzliche Dinge in Kauf nehmen: dass Deutschland auch künftig nicht immer gewinnt – und die Ko-Kommenta-Toren im Fernsehen. Es gibt seit zwölf Jahren die Ausnahme: Günter Netzer, in raffiniert inszenierter Verachtungspose gegenüber seinem ARD-»Kollegen« Gerhard Delling. Auch wenn Netzer noch einmal zum Einsatz kommt, am Sonnabend beim kleinen Finale – das gestrige Spiel der Deutschen gegen Spanien war sein letzter wirklich großer Auftritts-Anlass. Der Sonnabend könnte nur Bedeutung dadurch gewinnen, dass Netzer dem Spund Delling das Du anbietet ...

Beide reden nicht miteinander, Delling stellt Fragen wie Fallen, und Netzer zieht spurgerade dran vorbei. Kühn ins Wesenlose blickend. Ein Baumstamm als Rhetoriker. Aus der Tiefe des Raums kamen seine Pässe, seine Sätze vermeiden die Tiefe des Raunens. Ihm sieht man an, dass er denken muss, ehe er sprechen kann. Er verbirgt nicht seine Fremdheit: vor der Kamera und angesichts des Fußballs, den er meist sehen muss. Er ringt mit jedem Satz um den Beweis, dass ein Wort weniger als eine Silbe haben kann.

Netzer: Das war unbeschreiblich intime Ballbehandlung vor einem Freistoß – er und der Ball verschmolzen zu jener rituellen Einheit, die in der Lage war, Einbildungskraft zu zünden. Er hat Eckbälle direkt verwandelt, führte Regie im Mittelfeld, verkörperte mit Gladbachs »Fohlen« einen fließenden deutschen Fußball der traumhaften Flankenläufe und Kombinationen. »Ich betrachtete es als Kunst, den Ball in Richtungen zu schießen, die schwierig sind.«

Der Blonde mit Langhaar, geboren 1944, kam in zehn Jahren auf nur 37 Länderspiele: letztlich ein Einsamer, Abtrünniger zwischen Ehrgeizlingen und Vorwärtskommern; man warf ihm die Discos vor, die er besuchte, die weißen Ferrari, die er zu Schrott fuhr, das Ausland, in das er wechselte. Geliebt als »erster Popstar der Bundesliga«, dann geschmäht, als er zu Real Madrid ging. Leben ist ihm stets wichtiger als Marktfähigkeit gewesen; deshalb blieb er nur ein Genie des Sports – während sein Mitspieler Franz zum Kaiser in der Industrie aufstieg. Weil er sich unwohl fühlte im Fußballgeschäft, kündigte er als HSV-Manager, leitete eine Schweizer Sportagentur.

Netzer war ein Ausrutscher des Fernsehens in die Subversivität: Es zeigte plötzlich offen, wie ernst und unbunt es jenseits seiner umplapperten Bilder sein kann. Wenn er punktgenau und doch so gar nicht ziseliert sprach, schien sich der Spröde, Verschlossene in jener Ferne zu verlieren, aus der er herkommt. Die er wohl nie verließ.

Das Halbfinale gestern war ein Finale: Das Fernsehen hat nun verloren – ihn und überhaupt.

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