Problemfall Gymnasien

Berliner Schulreform: Aus drei mach zwei – doch bis zur einen Schule für alle Schüler ist es noch ein weiter Weg

  • Lesedauer: 7 Min.
Berlins Schulsystem ist im Umbau und das war Thema auf dem ND-Pressefest im Juni in Berlin. Moderiert von Lena Tietgen diskutierten Gabriela Anders-Neufang (Schulleiterin Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Pankow), Jens Großpietsch (Leiter Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule Tiergarten), Sigurt Vitols (Elternvertreter Thomas-Mann-Grundschule Pankow) und Steffen Zillich (Bildungsexperte der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus) über die Risiken und Chancen der rot-roten Bildungsreform.
ND-Pressefest – Problemfall Gymnasien

ND: Herr Zillich, ab dem nächsten Schuljahr wird es nach der Grundschule ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasien und Sekundarschule geben. Die eine Schule für alle Schüler bis zur zehnten Klasse lässt nach wie vor auf sich warten; das von der Linkspartei initiierte Projekt Gemeinschaftsschule ist bislang über die Modellphase nicht hinausgekommen. Bleibt den derzeit 21 Gemeinschaftsschulen also auf Dauer nur die Rolle von pädagogischen Leuchttürmen?

Zillich: Unser Ziel ist es nach wie vor, eine Schule für alle zu haben und zwar sowohl was das Schulsystem als auch was die Entwicklung und das Selbstverständnis der einzelnen Schulen betrifft. Die Gemeinschaftsschulen sind sehr gut gestartet. Dass nun diese Schulstrukturreform kommt, hat zwei Gründe. Zum einen bestand akuter Handlungsbedarf bezüglich der Hauptschulen, die heute ihren Schülern faktisch keine Bildungsperspektive bieten. Zum anderen fehlen die politischen und gesellschaftlichen Mehrheiten für einen raschen Umstieg auf ein flächendeckendes Gemeinschaftsschulsystem. Die Lösung dieser beiden Probleme liegt für uns in der Einführung der Integrierten Sekundarschule anstelle von Haupt-, Real- und Gesamtschule, in der Kinder zu allen Abschlüssen geführt werden. Zu den bestehenden Gemeinschaftsschulen werden weitere hinzukommen. Ihnen kommt dabei in der Tat eine Art Leuchtturmfunktion zu – sie werden als Orte des individuellen Lernens der Motor der Entwicklung sein.

Frau Anders-Neufang, sie leiten die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule in Pankow, die zu den ersten Einrichtungen dieser Art in Berlin zählt. Seit der Gründung Ihrer Schule ist einige Zeit vergangen, glauben Sie noch daran, dass Ihre Schule irgendwann mehr sein wird als ein Leuchtturmprojekt?

Anders-Neufang: Ja, auf jeden Fall. Wir wollen in unserer Schule zeigen, dass es möglich ist, dass Kinder, die unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, gemeinsam von der ersten bis zur zehnten oder gar zwölften Klasse lernen und dabei auch noch Spitzenleistungen erbringen. Eltern und Kinder leiden an dem Druck der frühen Selektion. Immer mehr Eltern registrieren an Beispielen wie meiner Schule, dass es für die ganze Gesellschaft wichtig ist, dass Kinder gemeinsam sich aufs Leben vorbereiten; später im Beruf müssen sie ja auch zusammenarbeiten. Die jetzt beschlossene Zweigliedrigkeit ist ein erster Schritt in diese Richtung.

Frau Anders-Neufangs Schule beherbergt überwiegend Kinder bildungsnaher Herkunft. Kritiker der Gemeinschaftsschule werfen ihr vor, dass sich unter diesen günstigen Voraussetzungen leicht gute Bildungsergebnisse erzielen lassen. Jens Großpietsch, viele Ihrer Schüler haben einen Migrationshintergrund, kommen aus sozial benachteiligten Familien. Welchen besonderen Herausforderungen müssen Sie sich stellen?

Großpietsch: Die Hälfte unserer Schülerinnen und Schüler sind nicht-deutscher Herkunftssprache. Die eigentliche Herausforderung, die unsere Schule hat, ist die, die eigentlich alle Schulen haben: Wie gehen wir als Lehrer mit der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler um? Wichtig ist dabei, dass die Mischung innerhalb der Gemeinschaftsschule stimmt. Es müssen bildungsorientierte Elternhäuser vertreten sein und Elternhäuser, die bisher eben nicht bildungsorientiert waren. Wir sind auf dem Weg dahin. Im ersten Jahr hatten bei uns in der 7. Klasse zehn Prozent der Schüler eine Gymnasialempfehlung, im nächsten schon 17 Prozent.

Die Befürchtung von Kritikern der Schulreform, dass ambitionierte Eltern die Sekundarschule meiden werden und es zu einem Andrang auf die Gymnasien kommen wird, teilen Sie nicht?

Großpietsch: Bezogen auf unsere Schule kann ich diese Befürchtung nicht bestätigen. Aus den Gesprächen mit Eltern, deren Kinder eine Gymnasialempfehlung haben, wissen wir, dass der Leistungsdruck, der an den traditionellen Gymnasien herrscht, immer häufiger abschreckt. Diese Eltern schätzen, dass es bei uns die Möglichkeit gibt, nach 12 oder 13 Schuljahren das Abitur zu machen, dass wir eine Ganztagsschule mit Hausaufgabenbetreuung sind und dass es reformpädagogische Elemente gibt. Ich bin jedoch skeptisch, ob das generell für die Sekundarschulen gelten wird. Bildungsorientierte Eltern werden ihre Kinder bevorzugt an jenen Schulen anmelden, die eine eigene gymnasiale Oberstufe haben. Die Erfahrung mit den Gesamtschulen in den zurückliegenden Jahrzehnten hat gezeigt, dass die Schulen, die eine solche Möglichkeit nicht bieten, letztendlich von den bildungsambitionierten Eltern nicht angesteuert werden.

Herr Zillich, warum werden nicht alle Sekundarschulen eine gymnasiale Oberstufe anbieten?

Zillich: Im Moment reichen die Übergangszahlen in die gymnasiale Oberstufe nicht, um an jeder Schule eine gymnasiale Oberstufe anzubieten. Aber unser Ziel ist natürlich, das deutlich auszuweiten.

Herr Vitols, was können die Elternvertretungen tun, um die Sekundarschule oder auch Gemeinschaftsschule bei den Eltern beliebter zu machen?

Vitols: Es stimmt, dass das Gymnasium häufig die erste Wahl der akademisch gebildeten Eltern ist. Aber das heißt nicht, dass diese nicht unkritisch gegenüber den Gymnasien sind, da pflichte ich Herrn Großpietsch bei. Die Frage ist aber, was ist die Alternative dazu? Vor Jahren gab es an der Thomas-Mann-Grundschule eine Initiative zur Gründung einer Gemeinschaftsschule. 80 Prozent der Eltern waren dafür, Skepsis gab es dagegen bei den Lehrern. Das kann ich sogar verstehen, denn die Politik hat in den vergangenen Jahren den Schulen viele Reformen aufgebürdet, die in der Regel unterfinanziert und personell schlecht ausgestattet waren. Die Lust an weiteren Änderungen ist vielen Grundschulen daher vergangen. Die Sekundarschule könnte natürlich eine Alternative zum Gymnasium sein, aber viele Eltern sind zur Zeit verunsichert, denn sie wissen beispielsweise nicht, ob diese Schulen wirklich gut ausgestattet sein werden.

Großpietsch: In Deutschland wird eher das Biertrinken und das Fußballspielen abgeschafft als das Gymnasium, damit müssen wir Lehrer, aber auch die Politiker klar kommen. Ich sehe derzeit weder in Berlin noch im Rest der Republik eine politische Mehrheit für die Abschaffung des Gymnasiums. Das Gegenmodell Gemeinschaftsschule kann nur funktionieren, wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfangen, reformpädagogisch zu arbeiten. Die Struktur kann sozusagen nur die äußere Hülle sein. Und das heißt, eine Schulreform kann nur von innen und von unten wachsen und nicht von oben angeordnet werden. Die Politik hat allerdings die Aufgabe, die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Es wird in Berlin viel über den schlechten Zustand der Schulen geklagt, darüber, dass Geld fehlt und der Putz von den Wänden bröckelt. Das sind sicherlich wichtige Punkte, der entscheidende Punkt für mich ist aber, dass Kolleginnen und Kollegen bereit sein müssen, sich auf einen anderen Unterricht einzulassen. Das ist eine Frage der inneren Haltung, denn das Problem am gegliederten Schulsystem ist, dass die Kollegen mit dem Wissen an die Arbeit gehen, Schüler, die schlechte Leistungen haben, loswerden zu können. Wenn aber klar ist, dass man diese Schüler gar nicht aussortieren kann, müssen sich die Lehrer auf diese Jungen und Mädchen einlassen.

Anders-Neufang: Wichtig ist aber auch, dass die Eltern in dem Moment, wo sich Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen verändern und anfangen, reformpädagogisch zu arbeiten, Vertrauen entwickeln. Das ist nicht einfach, denn in der Regel sind sie durch eine Schule gegangen, in der es Frontalunterricht gab, eine Beurteilung von Schülerleistungen nach Ziffernnoten. Sich auf etwas anderes einzulassen, zum Beispiel darauf, dass bis Klasse 8 keine Noten vergeben werden, ist dann natürlich schwierig. Ich vertraue darauf, dass es eine Abstimmung mit den Füßen geben und sich das Problem Gymnasium irgendwann erledigt haben wird.

Teilen Sie diesen Optimismus, Herr Zillich?

Zillich: So einfach wird es sicherlich nicht sein. Jens Großpietsch hat sicherlich recht: Es muss sich etwas am pädagogischen Ethos im Lehrerberuf ändern. Dafür braucht es eine grundsätzliche Reform der Lehrerbildung. Es ist jedoch nicht einfach, sich sowohl mit der Senatsverwaltung als auch mit den Universitäten darüber zu streiten. Der entscheidende Punkt ist für mich der: Selbst wenn wir jetzt sofort die Lehrerbildung verändern würden, würde sich das nicht unmittelbar auf die jetzt aktiven Lehrerinnen und Lehrer auswirken. Die brauchen wir ja auch, um die Veränderung im Schulwesen zu stemmen. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir ein Konzept für die Fortbildung entwickeln. Die Gemeinschaftsschulen haben gezeigt, wie man die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern integrieren kann in die Entwicklung der Schulen. Das gleiche Prinzip wird jetzt bei der Einführung der integrierten Sekundarschulen angewandt. Ein Vorteil dieser Schulen wird auch sein, dass sie bewusst besser ausgestattet sein werden als die Gymnasien – sie werden über mehr Ressourcen für individuelle Förderung verfügen. Aber etwas Geduld werden wir brauchen. Veränderungen im Schulsystem dauern lange.


Berliner Schulreform

Ab kommenden Schuljahr wird es nach der 6. Klasse nur noch zwei Schulformen geben – die Sekundarschulen und die Gymnasien.

  • Die Sekundarschulen bieten alle Schulabschlüsse an. Falls Sekundarschulen über keine eigene Oberstufe verfügen, sind Kooperationen mit anderen Schulen oder einem Oberstufenzentrum (OSZ – berufsbildende Schulen ab Klasse 11, an denen auch das Abitur abgelegt werden kann) möglich. Die Sekundarschulen wird es als Ganztagsschulen geben.
  • Die Gymnasien werden nach 12, in Schnellläuferklassen nach 11 Schuljahren zum Abitur führen. Ein Ganztagsangebot wird es nur an wenigen Gymnasien geben. jam
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