Beschränkter Einspruch zu Europas Gesetzen
Bundestag gibt sich neue Geschäftsordnung und stellt sich damit in Abseits
Lange wurde in Europa über eine Verfassung gestritten. Am Ende hieß die Verfassung Vertrag von Lissabon und war weder les- noch nachvollziehbar. Die Debatten in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ebbten dennoch nicht ab. Im Bundestag beispielsweise stellte sich die Fraktion der LINKEN gegen das Vertragswerk, konnte aber die Abstimmung über das Vertragswerk der Regierungschefs am 25. April 2008 nicht für sich entscheiden.
Neben Einzelpersonen zog daraufhin auch die Linksfraktion vors Bundesverfassungsgericht und errang ein Teilerfolg. Am 30. Juni 2009 wies das Verfassungsgericht zwar die Organklagen zurück, stellte jedoch fest, dass die in Artikel 38 und 23 Grundgesetz festgeschriebenen Beteiligungsrechte der beiden deutschen Parlamentskammern nicht ausreichend gewürdigt worden seien.
Mit einer Sondersitzung des Bundestages am 8. September 2009 wurden die nachgebesserten Gesetze zur Unterrichtung und Beteiligung des Bundestages und Bundesrates in Gesetzgebungsprozessen auf europäischer Ebene schließlich verabschiedet und wenig später der Vertrag von Lissabon ratifiziert.
Besonders wichtig für die Beteiligung nationaler Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren sind die Instrumente der Stellungnahme und der Subsidiaritätsrüge. Ist ein Parlament der Meinung, die EU übertrete deren Gesetzeskompetenzen, kann es die EU-Kommission auffordern, ihren Gesetzentwurf zu überprüfen. Hierfür sind ein Drittel der nationalen Parlamente in der EU notwendig.
Bislang jedoch hatte man in Berlin nach einem geeigneten Verfahren gesucht, um eine solche Rüge im Bundestag beschließen zu können und entsprechend die Geschäftsordnung des Bundestages zu ändern. Mit dem Schlusspfiff vor der parlamentarischen Sommerpause ist dies geschehen. Endlich wissen die Parlamentarier, was sie wie, wo und wann im Bundestag zu debattieren haben. Oder doch nicht?
Problematisch ist vor allem die durch den EU-Vertrag vorgegebene Frist zur Intervention innerhalb von nur acht Wochen. Dieses Problem hat der Bundestag nur auf den ersten Blick gelöst. Zwar wird in Paragraf 93a der Geschäftsordnung darauf verwiesen, dass »die Ausschüsse bei ihrer Beschlussfassung die auf der Ebene der EU maßgeblichen Fristen zu berücksichtigen« hätten, dass dies aber die weiteren Geschäftsordnungsregeln nicht gerade vereinfachen, sondern erschweren, ist erst bei genauerem Hinschauen erkennbar.
Künftig kann zwar auf Verlangen einer Fraktion innerhalb von drei Sitzungswochen nach Eingang eines EU-Gesetzentwurfes dieser auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden. Wertvolle Zeit könnte gewonnen werden, hätten die Verfasser von Wochen und nicht von Sitzungswochen geschrieben. Bekanntlich liegen Letztere manchmal bis zu drei Wochen auseinander.
Zum Zweiten ist vorgesehen, dass bei Absicht der Erteilung einer Rüge unverzüglich der EU-Ausschuss des Bundestages zu informieren ist, um diesem »zunächst« die Möglichkeit einer Stellungnahme zu geben.
Geklärt ist damit nicht, wer eine solche Absicht haben muss. Ist hierfür bereits ein Abgeordneter ausreichend oder eine Fraktion oder gar ein gesamter Fachausschuss? Und was passiert, wenn der EU-Ausschuss hierüber in tief gehende Beratungen eintritt? Muss dann der zuständige Fachausschuss warten?
Zur Erinnerung: Die Frist von EU-Seite beträgt lediglich acht Wochen. Und warum soll der EU-Ausschuss über dem Fachausschuss stehen? Gibt es fortan Ausschüsse erster und zweiter Klasse? Erschwerend kommt drittens hinzu, dass nach den Ausschussdebatten schließlich das Plenum des Bundestages formal über die Rüge beschließen muss.
Und so wurde im perfekten Bürokratendeutsch die praktische und vom Verfassungsgericht eingeforderte Mitbestimmung des Bundestages nahezu unmöglich gemacht. Und kaum einer hat es mitbekommen. Alle Fraktionen des Bundestages votierten für die Änderung der Geschäftsordnung und werden die Folgen der Entscheidung wohl erst nach der Sommerpause spüren. Wenn sie es denn überhaupt merken.
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