Iniestas süßer Schuss ins Glück

Spaniens 26-jähriger Mittelfeldspieler krönt mit dem Weltmeistertitel seine Saison voller Widrigkeiten

Der »Bonbonverteiler« hat dem krisengeplagten Spanien ein süßes Geschenk bereitet: Andrés Iniestas Schuss in der 116. Minute des WM-Endspiels gegen die Niederlande versetzte ganz Spanien in einen Glückstaumel. Dabei ist Iniesta nicht für eine besondere Torgefährlichkeit bekannt, sondern für seine schwerelosen Dribblings und präzisen Zuspiele, die seinen ehemaligen Trainer Frank Rijkaard dazu verleiteten, ihm den Beinamen »Bonbonverteiler« zu verleihen.

Sieben Mal hatte das 26-jährige Leichtgewicht vom FC Barcelona bis zum Endspiel in Soccer City in der spanischen »Selección« getroffen, ganz ordentlich für einen offensiven Mittelfeldspieler, mehr aber auch nicht. Viel besser ist seine Quote an wichtigen Toren. Vor gut einem Jahr war es sein Schuss in letzter Minute, der Barça das Weiterkommen gegen Chelsea brachte und den Weg zum Champions-League-Triumph ebnete. Nun traf er in seinem 49. Länderspiel zum achten Mal – der Schuss zum Titel in einer Saison, die für Iniesta von Beginn an von Widrigkeiten sportlicher und privater Natur geprägt waren. Monatelang laborierte der schmächtige Spieler in wiederholtem Maße an Muskelverletzungen, aber viel schwerer wog der Verlust eines seiner engsten Freunde: des fast gleichaltrigen Kapitäns des Lokalrivalen Espanyol, Dani Jarque, der am 8. August 2009 an Herzversagen starb. Obwohl sie sich auf dem Platz seit ihrer Jugend in unzähligen Stadtderbys bekämpften, waren sie dicke Freunde – tauschten nach jedem Spiel miteinander die Trikots und waren zudem verbunden durch gemeinsame Einsätze in spanischen Jugendauswahlen.

Der Tod von Jarque ließ den zum Beinehochlegen gezwungenen Iniesta schwer grübeln. Welches Opfer ist der Fußball wert? Ob Iniesta darauf eine letztgültige Antwort gefunden hat, ist nicht überliefert. Am Sonntag jedenfalls fand er die Antwort auf den niederländischen Abwehrriegel nach zähem Ringen: Er stahl sich im Strafraum davon, nahm den Pass von Cesc Fabregas auf und versenkte den Ball mit einem harten Spannstoß ins lange Eck. Danach riss er sich das Trikot vom Körper und zeigte darunter ein T-Shirt mit dem Schriftzug »Dani Jarque – immer mit uns.« Iniesta erklärte sein Ansinnen nach dem Spiel: »Das sind sehr glückliche Momente und bisher konnte ich Jarque noch nicht öffentlich gedenken und die Gelegenheit bei einem WM-Finale ist spektakulär.«

Es war einer jener Momente, in denen der introvertierte Iniesta, der als 11-Jähriger aus Fuentealbilla in die 700 Kilometer entfernte Jugendakademie »La Masia« des FC Barcelona zog, alle Zurückhaltung fallen ließ. Aus eben diesem Jugendinternat stammt ein Großteil der spanischen Auswahl: die Innenverteidiger Carles Puyol und Gerard Piqué, die Mittelfeldspieler Xavi, Sergio Busquets, Cesc Fàbregas, die beiden Ersatztorhüter Pepe Reina und Victor Valdès und auch der aus Teneriffa stammende Stürmer Pedro.

Kein Team setzte bei dieser WM so konsequent auf Blockbildung wie Spanien unter Trainer Vicente del Bosque. Das schlägt sich sichtbar in Automatismen nieder, die denen der anderen Teams deutlich überlegen sind. Kann inzwischen jede Mannschaft passabel verteidigen und Räume verengen, so sah es mit Offensivvarianten bei dieser WM recht mau aus. Selbst das spektakuläre deutsche Konterspiel kam erst bei eigener Führung so richtig in Fahrt, wenn der Gegner durch Aufrücken Räume bot.

Mit Räumen sah es auch im Endspiel mager aus. Die »Furia Roja« legte zwar furios los und kam durch einen Kopfball von Rechtsverteidiger Sergio Ramos schon in der fünften Minute zu einer klaren Chance, den der niederländische Keeper Marten Stekelenburg gerade noch entschärfen konnte. Danach blieb Spanien dominant, ohne zu zwingenden Chancen zu kommen während das holländische Mittelfeld mit hartem Einsteigen den Spaniern die Lust am Spielen zu vergällen suchte. Nach einer knappen halben Stunde hatte schon das komplette defensive Mittelfeld, Mark van Bommel und Nigel de Jong, vom englischen Schiedsrichter Howard Webb Gelb gesehen. Das Spielniveau verflachte zusehends. Die Niederlande spielte sehr defensiv, kam aber über Konter vor allem über Bayern-Star Arjen Robben zu zwei klaren Konterchancen, die Iker Casillas glänzend vereitelte. Insgesamt interpretierten die Spieler von Bert van Marwijk das Konzept des Clockwork Orange offenbar anhand der Gewaltszenen aus dem Film von Stanley Kubrick und nicht anhand des »totalen Fußballs«, wie ihn Johan Cruyff bei der WM 1974 in Deutschland mit seinen Mitspielern zelebrierte. Eben jener Cruyff hatte als erster Barça-Trainer (1988-96) verstärkt auf »La Masia« gebaut.

Die Früchte davon trägt nun Spanien, das von Cruyff schon vor dem WM-Finale gelobt wurde: »Die spanische Nationalmannschaft ist eine Kopie des FC Barcelona, die beste Werbung für den Fußball.«

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