Der Aufschrei

Hauptmanns »Rose Bernd« am Münchner Residenztheater

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Alles beginnt mit einem Schrei. Eine Frau stürzt zwischen lauter gefüllte Blecheimer. Und rutscht bis nach vorne an die Rampe. Das ist das Ende im Anfang. Rose Bernd, diese schöne junge Frau hatte keine Chance für ein selbstbestimmtes Leben. Sie wurde bedrängt, erpresst und sogar vergewaltigt. Sie wurde schwanger und hat ihr Kind umgebracht. Und wird irre an der Welt. Wie Gretchen in Goethes Faust ein Jahrhundert früher. So ist das mit der moralischen Arbeitsteilung in einer konsequent patriarchalischen Welt. Die Männer haben allemal noch jemanden, den sie unterdrücken können. Eigentlich geht es hier – wie heute immer noch in den voremanzipatorischen Parallelgesellschaften mit ihren Verhüllungs- und Geschlechtertrennungsgeboten – weniger ums Frauen-, als ums Männerbild. Eins, vor dem die, die es vertreten, erschrecken müssten.

Gerhart Hauptmann war erschrocken, als er als Geschworener an einem Kindsmordprozess teilnahm. Der Künstler sah den Zwang der engen Verhältnisse für die Angeklagte, stimmte für Freispruch und schrieb »Rose Bernd«. Hauptmann ergreift so 1903 Partei, indem er zeigt, was war. In dem er die Umstände, die zu einer schlimmen Tat führten, protokolliert und den Blick nicht auf das Ungeheuerliche einer Tat verengt. Im damaligen Rechtssystem eine Utopie. Und als Literatur, im Kanon der überlebenden Hauptmannstücke, immerhin eine Herausforderung.

Ihr hat sich jetzt der Chemnitzer Schauspielchef Enrico Lübbe (35) im Münchner Residenztheater gestellt. Er nimmt den zum Teil im schlesischen Dialekt geschriebenen Text nicht als Vorlage für eine naturalistisch nachgebildete Wirklichkeit, sondern als stilisierten, exemplarischen Diskurs. Damit wird die archaische Dimension des Bühnenbildes von Hugo Gretler noch verstärkt. Die metaphorisch gemeinte dunkle Schräge wird nur begrenzt von den Brandmauern.

Rose ist bei Lucy Wirth kein verschüchtertes Hascherl. Wenn sie bedrängt wird und am ganzen Körper zittert, dann geht es sichtbar um ihr Leben. Um einen Versuch, auszubrechen aus dem engen moralischen Korsett. Das vor allem der fanatisch gottesfürchtige Vater unnachsichtig verkörpert. Lübbe unterschlägt die möglichen Auswege für Rose nicht. Selbst wenn Frau Flamm (Juliane Köhler) zuerst einen Ersatz für ihr verstorbenes Kind sucht, so ist ihr Angebot, für Rose und deren noch ungeborenes Kind zu sorgen, doch ernst gemeint. Das wäre eine (Über-)Lebenschance in höchster Not gewesen für Rose.

Der ihr aufgezwungene Ehemann August Keil (Thomas Gräßle) gewinnt als einziger menschliche Größe – als er zu ihr steht, da sich alle abwenden. Rose aber flieht in den selbstzerstörerischen Aufschrei. Die Vehemenz, mit der Lübbe ihn inszenierte, hat das Publikum stark beeindruckt.

Nächste Vorstellung: 28. Juli

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