Demokratischer Sozialismus – eine Worthülse?
Nicht die ökologische Malaise stellt die Systemfrage, sondern die Destruktivität des Kapitalismus
Ein linkes Programm ist an die gesellschaftliche Bewegung anzubinden und nicht umgekehrt. Des weiteren hat es die soziale, wirtschaftliche und politische Realität wie das herrschende Bewusstsein mindestens in Umrissen zu benennen. Ein gewisses Maß an theoretischer Triftigkeit sollte es nicht vermissen lassen. Schließlich ist anzugeben, an welchen Bruchstellen linke Aktivitäten greifen können und es sollte über die Verteidigung des Istzustandes bzw. Sozialreform in die sozialistische Richtung weisen. Die den Programmentwurf durchaus markierenden und beachtenswerten antikapitalistischen Aussagen bleiben dabei stehen.
Die Autoren machen sich leider nicht die Mühe, die herrschenden Bedingungen zu skizzieren. Dabei ist das für jeden Ansatz linker Politik unverzichtbar. Für die BRD und weithin die westliche Welt gilt, dass das Kapital im wesentlichen unangefochten im Sattel sitzt und die Lohnarbeiter sowie andere abhängige Schichten sich damit wohl oder übel arrangieren. Trotz allen Murrens und gelegentlich aufflackernden Widerstands haben sie ein entpolitisiertes Bewusstsein. Die Arbeiterklasse an sich ist meilenweit davon entfernt, zur Klasse für sich zu werden. Sie weiß sehr wohl, dass sie im historischen und internationalen Vergleich trotz aller Unbill relativ gut da steht, hat insofern mehr zu verlieren als ihre Ketten. Eine nach vorn drängende Bewegung in ihr ist nur in einer Minderheit auszumachen.
Was sich sonst in der Gesellschaft umtut, ist um »single point-issues« (Einpunkt-Themen) gruppiert, von wenigen Ausnahmen wie Attac und eben DIE LINKE abgesehen. Der Programmentwurf nimmt nicht einmal das wenige, was ihm der gesellschaftliche Prozeß zuspielt, auf und flüchtet daher in die Ausmalung idealer Zustände, der jede/r Linke und sogar Linksliberale zustimmen kann. Mehr noch, er versucht, den hochgemuten Schein der bürgerlichen Gesellschaft gegen sie zu wenden – vermutlich in der Hoffnung, dass dies der Köder sei, an dem die Fische anbeissen.
Ich möchte Revue passieren lassen, wie dünn die theoretisch-politische Grundlage ist, auf die sich der Programmentwurf stützt. Er bezieht sich weit weniger auf Marx als auf die französischen Sozialisten des 18. Jahrhunderts sowie auf Wilhelm Weitling, Rudolf Hilferding und Viktor Agartz. Das ist keine Geschmacksfrage, sondern eine des Tiefgangs. So werden weder der Staat als politische Formation noch sein Verhältnis zur Ökonomie in den Blick genommen. Die Machtfrage, vor der früher oder später jede sozialistische Bewegung steht, wird mit Begriffen wie »Zurückdrängung« oder »Überwindung« der Kapitalherrschaft mehr vernebelt als geklärt. Überhaupt ist im Programmentwurf das Politische in der Dialektik von Unterdrückung und Befreiung unterbelichtet, wie auch zentrale Fragen etwa des brisanten Verhältnisses von Individuum und Kollektiv gar nicht erst auftauchen.
Kleine und doch wichtige Differenzen
Schon auf Seite 3 (alle Seitenziffern nach der ND-Beilage vom 27./28. März 2010) heißt es: »Die ungebändigte Freiheit der Finanzhaie bedeutet Unfreiheit für die Mehrheit der Menschen« – ein sprachlich und sachlich hinkender Satz. Der Verdacht drängt sich auf und wird im folgenden mehrfach bestätigt, dass es nicht um die gewöhnliche und alltägliche Ausbeutung im Kapitalismus geht, sondern um seine neoliberalen »Auswüchse«, die es zu bekämpfen gelte. Diese verschärfen die Lage der abhängig Erwerbstätigen, wohl wahr, aber jene geht darin nicht auf. So bleibt auch die postulierte »nachhaltige Entwicklung anstelle profitorientierten Wachstums« trotz aller Wortkaskaden merkwürdig blass.
Der nachfolgenden Auflistung der Ziele der LINKEN kann man ohne weiteres zustimmen, Wichtiges und Richtiges ist darin angepeilt. Das gilt auch für den historischen Abschnitt. Dass es allerdings die Friedensbewegung war, welche die Blockkonfrontation des Kalten Krieges aufweichte, ist wohl doch etwas hoch gehängt. Die Zeilen über den Sozialismus in der SU und DDR eiern um die historischen Bedingungen, unter denen er belastet und gewagt war, herum. Was als Lehre und Substanz dieser Erfahrungen anzusehen ist, wird nicht gesagt. Stattdessen wird »eine Gesellschaft im Einklang mit der Natur, die sich auf Freiheit und Gleichheit gründet, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung« in den Himmel sozialistischer Träume gehängt. (S. 5)
In den Ausführungen zur Wirtschaftskrise kriegen Finanzkapital und Neoliberalismus ihr Fett ab. Es stimmt, dass sich das anlagesuchende Kapital vermehrt in die Finanzmärkte wirft und damit ein dramatisches Übergewicht gegenüber dem realwirtschaftlichen Kapital erhält. Seine so erscheinende selbsttätige Bewegung ist nur möglich und nötig, weil das Kapital in seiner hohen Ausbeutungsrate und ständigen Vergrößerung an die Grenze der zahlungsfähigen Nachfrage stößt und somit in die Krise samt den bekannten Folgen gerät, die vom spekulativen Kapital und seinen hoch geschraubten Renditeerwartungen ausgelöst und verschärft, aber nicht verursacht wird.
Es ist daher auch nicht der Neoliberalismus, der eine »Krise der Zivilisation« (S. 7) bewirkt; vielmehr begleitet diese den Kapitalismus von Anbeginn. »Die Staaten und die Weltgesellschaft bleiben Geisel der Vermögensbesitzer und Spekulanten« (S. 7) – das waren sie allerdings auch schon vorher im »normalen« industriellen Kapitalismus und werden es auch im postmodernen sein, wenn ihnen nicht gegen das gewöhnliche und spekulative Kapital aufgeholfen wird. Das trifft ebenfall auf die kapitalistische Inwertsetzung natürlicher Ressourcen zu, die sich »Monsieur le Capital« von »Madame la Terre« aneignet. Nach dem Programmentwurf ist es übrigens die ökologische Malaise, welche die »Systemfrage« (S.8) stellt, nicht etwa die Destruktivität des Kapitalismus als Produktionsform überhaupt. Es ist daher auch kein Zufall, dass die entfremdeten und teilweise elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung hierzulande und anderwärts im Visier der demokratischen Sozialisten gar nicht erst auftauchen.
Diese benennen ihre Vorstellungen vom 21. Jahrhundert, die um die »Veränderung der Eigentumsverhältnisse« und »eine radikale Erneuerung der Demokratie« (S.9) kreisen. Ich erpare es mir hier, auf die Vorschläge im einzelnen einzugehen. Ihre Realisierung »wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen von revolutionärer Tiefe gekennzeichnet« (S. 9). Das hätte man schon gern etwas genauer gewusst!
Im folgenden (S. 10-17) wimmelt es von floskelhaften Schlagworten, deren beliebteste »demokratisch«, »öffentlich« und »gerecht« sind, ohne dass auch nur einmal ausgeführt wird, was das inhaltlich bedeutet und wie es vor sich geht. Diese Wunschliste kann im Grunde jede/r Progressive unterschreiben, ohne dass er damit schlauer wäre.
Merkwürdigerweise erscheinen nicht einmal in Ansätzen zwei der zentralen Probleme des zeitgenössischen und wahrscheinlich zukünftigen Kapitalismus, die der Programmentwurf entweder ausblendet oder bieder arbeitsorientiert beantwortet. Das ist erstens das »Recht auf Faulheit« (Lafargue gegen Marx) oder, vornehmer und richtiger ausgedrückt, das Recht auf Muße und selbstbestimmte Tätigkeit. Das ist zweitens die vermutlich nicht umkehrbare Entwicklung, dass im hochproduktiven Kapitalismus eine relativ schrumpfende Erwerbsbevölkerung einen mindestens konstanten Anteil Erwerbsloser alimentiert. Darin zeigt sich nichts weniger als die strukturelle Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.
»In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden ... und die selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie.« (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Seite 592) und daher beständig Arbeitskräfte freisetzt. In beiden Momenten liegt ein systemsprengendes Potential.
Der letzte Abschnitt »Gemeinsam für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft« (17f.) kann nach dem Gesagten keine großen Überraschungen mehr bergen. Man strebe »ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Neoliberalismus und Kapitalherrschaft« an und trete »für eine linke demokratische, soziale, ökologische und friedliche Politik zur solidarischen Umgestaltung der Gesellschaft« ein. Es ist unklar, an wen man damit wie anknüpfen will und bleibt schließlich an der »Entwicklung von langfristigen Reformalternativen« hängen.
Letztendlich geht es dem Programmentwurf genau darum: den Sozialstaat wieder zu gewinnen und auszubauen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass er sich einer spezifischen historisch-politischen Konstellation verdankte, die sich heute in ihr Gegenteil verkehrt hat und nur – wenn überhaupt – mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder herzustellen wäre. Der postulierte Druck außerparlamentarischer Bewegungen auf linke Parlamentarier ist allerdings nicht zu sehen. Diese agieren weitgehend allein im parlamentarischen Raum – und es ist noch gar nicht ausgemacht, dass er sie nicht schlucken wird. Das System, um Goethes »Faust« zu zitieren, hat »einen großen Magen«, der auch bereits die Grünen verdaut. So bleibt letztendlich offen, was das heisst: »Gemeinsam können wir dieses Land verändern und eine bessere Gesellschaft aufbauen.« (S. 18)
Postmoderne Jakobiner
Wann hätten sich Kapitalismus und bürgerliche Demokratie je durch ihren idealen Schein von ihren alltäglichen und strategischen Interessen abhalten lassen? Sie akzeptieren ihn, so lange er ihre Kreise nicht stört und ihnen obendrein höhere Weihen verleiht. Wenn sich allerdings ökonomische und politische Krisen auch nur am Horizont abzeichnen, können sie sehr ungemütlich werden, wie ihre Geschichte und heutige Politik weidlich beweist. Gleichwohl ist es richtig, an den hehren Postulaten des Grundgesetzes festzuhalten, obgleich diese (vgl. Verbot des Angriffskriegs und das Asylrecht) immer wieder durchlöchert werden. Es liegt in dieser Konfrontation durchaus ein grenzüberschreitendes Moment, wie Rosa Luxemburg betonte: Denn eine wirkliche soziale Demokratie ist nur im Sozialismus möglich und muss erkämpft werden. Das Grundgesetz wie bürgerliche Verfassungen überhaupt sind daher bloß Ausgangs-, nicht Endpunkt der sozialistischen politischen Bewegung.
Wohin es führt, wenn man die Idee einer Sache für die Wirklichkeit hält, lässt sich in der Geschichte besichtigen. Die französischen radikalen Republikaner – Sansculottes oder Jakobiner – gedachten, die Losungen der Revolution kompromisslos durchzusetzen. Sie endeten im egalistischen Terror; die Kehrseite ist der Opportunismus. Die anstehenden Produktionsverhältnisse waren ihnen nicht im Blick. Diese betraten dann in Gestalt der bonapartistischen Bourgeoisie die Bühne. Ähnliches gilt für die mexikanische Revolution oder den Februarumsturz 1917 in Russland.
Es ist noch gar nicht ausgemacht, wohin der Hase der LINKEN läuft. Entweder will er sich nur an den Futterrüben des wie immer gewandelten herrschenden politischen Systems gütlich tun, oder er wagt sich ins Freie des sozialistischen Aufbruchs, wie das Andrej Platonov für die frühe Sowjetunion meisterhaft beschrieb. Der ist freilich voller Wagnisse und Untiefen. Wer indes als Sozialist die kapitalistische Produktions-, Konsum- und Legitimationsmaschine unterschätzt und mit einem Salto im vorgestellten Wunschland landen will, den bestraft das Leben.
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