Wirtschaftsleistung wuchs um 2,2 Prozent

Statistiker melden überraschend starken Aufschwung / Sparkurs infrage gestellt

  • Ulrich Glauber, Frankfurt
  • Lesedauer: 3 Min.
Das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal 2010 so rasant gestiegen wie nie seit der Wiedervereinigung. Nur die Konjunkturabkühlung in USA, China und in der restlichen EU könnte die ausfuhrabhängige deutsche Wirtschaft ausbremsen.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle spricht von einem »Aufschwung XL«. Die Kleidergrößen-Anleihe des Politikers aus den Reihen der liberalen FDP ist nicht von der Hand zu weisen. Zur Überraschung vieler Analysten, die mit einem Anstieg um 1,3 Prozent gerechnet hatten, verzeichnete die Bundesrepublik laut Mitteilung des Statistischen Bundesamtes vom Freitag im Zeitraum April bis Juni ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal 2010. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum wuchs die Wirtschaftsleistung sogar um 4,1 Prozent. Damit war Deutschland Spitzenreiter in der Eurozone, deren 16 Mitgliedsländer nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat gegenüber dem Vorquartal um 1,0 Prozent wuchs. Schlusslicht war das hochverschuldete Griechenland mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,5 Prozent.

Exporte, Investitionen, langer Winter

Der zum Jahreswechsel ins Stocken geratene Aufschwung habe sich »eindrucksvoll zurückgemeldet«, konstatieren die Wiesbadener Statistiker. »Die Dynamik der Investitionen und des Außenhandels hatten dabei den größten Anteil. Aber auch die privaten und staatlichen Konsumausgaben trugen zum Wachstum bei.« Ein Sondereffekt dürfte gewesen sein, dass viele Projekte der Bauindustrie wegen des langen und schneereichen Winters unterbrochen und erst im zweiten Quartal weitergeführt werden konnten.

Minister Brüderle spricht davon, es könne nun im Gesamtjahr ein Wachstum »von weit über zwei Prozent« geben. Ökonomen äußern sich noch optimistischer. Einzelne Volkswirte halten sogar ein Plus von mehr als drei Prozent für möglich. Dass es in diesem Tempo nicht weitergehen kann, darüber sind sich allerdings alle einig. Konjunkturforscher sagen für das dritte und vierte Quartal Wachstumsraten von 0,5 Prozent voraus. Für 2011 rechnen die meisten Experten für Deutschland bislang mit einem Wachstumsplus von etwa 1,5 Prozent, weil die Weltwirtschaft mit dem Auslaufen der staatlichen Konjunkturprogramme an Schwung verlieren dürfte.

Abkühlung auf wichtigen Absatzmärkten

Tatsächlich mehren sich die Anzeichen für eine Abkühlung auf den wichtigsten Absatzmärkten der Bundesrepublik. Die deutsche Wirtschaft würde einen Rückgang bei den Ausfuhren nur schwer durch das Inlandsgeschäft kompensieren können. Zwar geht wegen des Booms die Arbeitslosigkeit leicht zurück. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, der meist kleine und mittlere Unternehmen vertritt, rechnet jedenfalls bei seinen Mitgliedern mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen Mehr als 80 Prozent der Firmen planten Neueinstellungen.

Auch haben die Gewerkschaften das »Ende der Bescheidenheit« verkündet und wollen die Teilhabe der Arbeitnehmer am Aufschwung einfordern. Bis sich das in höherer Konsumfreude niederschlagen wird, dürfte es allerdings dauern. Erst im Frühjahr kommenden Jahres können die Gewerkschaften, die in der Krise Zurückhaltung übten, für ihre Mitglieder neue Gehaltsbedingungen erkämpfen.

Der deutsche Staat wird die Wirtschaft bei einer Rückfallerkrankung unter seiner jetzigen Regierung wohl kaum ankurbeln. Die robuste Konjunktur sei eine klare Ermutigung, »den Ausstieg aus der staatlichen Krisenfürsorge fortzusetzen« und den Staatshaushalt zu sanieren, kündigte FDP-Politiker Brüderle die Verschärfung des Sparkurses der schwarz-gelben Koalition in Berlin an. Selbst das »Handelsblatt« warnte davor, diesen Kurs zu überziehen. Die Bundesregierung solle »die durch unerwartet steigende Staatseinnahmen entstehenden Spielräume nutzen und die Konsolidierung der Staatshaushalte langsam angehen lassen«, rät ein Kommentar der Wirtschaftszeitung zur Pflege des zarten Pflänzchens privater Konsum. Kommentar Seite 4

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