Jüdinnen in Ravensbrück
Judith Buber Agassi erforschte das Schicksal einer ganzen KZ-Häftlingsgruppe
Irgendwann hatte Judith Buber die Nase voll. Die Enkelin des berühmten Professors Martin Buber aus Jerusalem fühlte sich ausgenutzt. Länger als vier Wochen hatte der Kibbuz Eylon sie und ihre Gruppe ausschließlich zu Arbeiten an den Latrinen eingesetzt. Was aber schwerer wog: Die Kibbuzim des linkszionistischen Jugendverbandes HaShomer HaZair lehnten eine akademische Laufbahn ihrer Mitglieder ab. Lehrerinnen aber könnten sie für ihren Traum vom Sozialismus brauchen. Also studierte Judith Buber Pädagogik, hatte aber bald genug vom Chauvinismus am Lehrerseminar. Der Kibbuz und sein Konzept vom neuen Menschen schienen ihr keine Alternative.
Flucht nach Palästina
1938 waren ihre Großeltern Paula und Martin Buber mit den Enkelinnen Barbara und Judith aus dem hessischen Heppenheim nach Palästina emigriert. Ein Leben in Nazideutschland war für die Schriftstellerin und den Religionsphilosophen nicht mehr möglich gewesen. Die Mädchen waren bei der Scheidung ihrer Eltern den Großeltern zugesprochen worden. Von ihrer Mutter Margarete Buber-Neumann sollte Judith erst nach Kriegsende hören – als es der Mutter gelungen war, über einen amerikanischen Soldaten Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen.
Da lag ein erschütterndes Jahrzehnt hinter Margarethe Buber-Neumann. 1935 war sie mit ihrem zweiten Ehemann Heinz Neumann, beide Kommunisten, in die Sowjetunion gegangen. Der KPD-Funktionär Neumann wurde 1937 im Zuge der Stalinschen Säuberungen vom NKWD verhaftet und hingerichtet, seine Frau Margarethe als »Volksfeindin« in einen Gulag gesperrt und im Frühjahr 1940 an Deutschland ausgeliefert. Die Gestapo brachte sie ins KZ Ravensbrück, wo ihre Leidenszeit bis zum 21. April 1945 dauerte. Später, während des Kalten Krieges, wurde Buber-Neumann zu einer Kronzeugin des Antitotalitarismus.
Nach der Wende 1989/90 holte die neue Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück in Brandenburg die Erinnerungen von Buber-Neumann aus dem »Giftschrank« der Bibliothek und las sie aufmerksam. Eine ehemalige kommunistische Gefangene hatte sie darin bestärkt. 1994 lud sie Buber-Neumanns Tochter Judith nach Ravensbrück ein. Es ging um die Vorbereitung einer Ausstellung über prominente KZ-Häftlinge. Die Professorin aus Israel kam nicht unvorbereitet; sie war nach dem Studium in Jerusalem und London eine einflussreiche Soziologin zu Frauenthemen geworden. Das Thema Ravensbrück war ihr nicht nur persönlich sehr nahe.
»Ich werde versuchen, die Überlebenden in Israel über die Situation und das neu erwachte Interesse zu informieren«, versprach sie und gab der israelischen Zeitung »Yediot Achronot« ein Interview mit Folgen: Monatelang schien das Telefon nicht still zu stehen.
Der ersten Reise von Judith Buber Agassi nach Ravensbrück folgten zehn Jahre intensiver Forschung zum Schicksal jüdischer Frauen in dem KZ. Ihre Arbeit führte auch zur Gründung eines Kreises der Ravensbrück-Überlebenden in Israel. »Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, dass etwas Wichtiges fehlte«, sagte Judith Buber Agassi später: »Nichts gab es über die jüdischen Häftlinge, und im Keller lagen verschimmelte Papiere, als ich 1994 das erste Mal nach Ravensbrück kam.«
Ein später Gedenkstein
In Ravensbrück fragt man sich, was sie damals gesehen haben mag. Das Archiv wohl kaum. Erst 1997 bezog es Kellerräume; sein vorheriger Zustand entsprach nur unvollkommen dem wissenschaftlichen Standard. Der Austausch von Materialien selbst mit den sozialistischen Nachbarstaaten war unsystematisch gewesen. Viele Dokumente lagerten beim Ministerium des Innern; der Rang der Gedenkstätte Ravensbrück galt geringer als der von Buchenwald, Sachsenhausen und dem einstigen Zuchthaus Brandenburg. Das widerspiegelte sich in den finanziellen Mitteln und führte zu Streit zwischen den Ehemaligen, zwischen Männern und Frauen.
In den 80er Jahren begann der Aufbau von Sammlungen, Fachpersonal wurde eingestellt, es wurde geforscht. Die Zugangslisten von Ravensbrück sind die Grundlage einer 1987 fertig gestellten Diplomarbeit zu jüdischen Häftlingen in Ravensbrück. Die lückenhaften Unterlagen per Hand auszuwerten war mühsam. Diese Arbeit schuf Voraussetzungen für weitere Forschungen. Dass die Studenten sich dem Schicksal jüdischer Häftlinge zuwandten, war eher Zufall. »Es war mutig von den ihnen«, meint Judith Buber Agassi.
Die Diskussionen an der Gedenkstätte über das Selbstverständnis führten Anfang der 80er Jahre zu der »Ausstellung der Nationen« im ehemaligen Zellentrakt. Organisationen der antifaschistischen Widerstandskämpfer gestalteten eigene Gedenkräume, die noch heute authentisch ihre jeweilige Entstehungszeit im nunmehr denkmalsgerecht hergerichteten Gebäude widerspiegeln.
Im April 1986 wurde in Ravensbrück endlich ein Gedenkstein mit der Inschrift »In ehrendem Gedenken an die unzähligen jüdischen und anderen Opfer des faschistischen Rassenwahns« aufgestellt. Erst nach 1990 wurde eine weitere Idee umgesetzt: Gedenkräume für bislang unbeachtete Verfolgten-gruppen – Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas sowie für die Inhaftierten des 20. Juli 1944. Doch der nichtdeutschen Juden wurde noch immer nicht gedacht. Und auch das Männerlager blieb bis 1995 unbeachtet.
Judith Buber Agassi kämpft um Respekt für die weiblichen Erfahrungen der Shoa und für die Art des Widerstandes von Frauen. Sie kennt die israelischen Probleme damit. Das Schicksal der Frauen schien als Leitbild für die Nachgeborenen kaum geeignet. Die Fokussierung auf Kämpfer des Widerstandes gegen die Nazis und für das junge Israel wirkt nach. Beispielsweise avancierte der Attentäter, der 1948 in Jerusalem den UNO-Nahostvermittler Bernadotte ermordete, später sogar zum informellen Leibwächter und Freund des Ministerpräsidenten Ben Gurion. In Israel ist Bernadotte bis heute umstritten und weitgehend unbekannt – obwohl er 1945 die Rot-Kreuz-Hilfe für KZ-Insassen initiiert hatte.
Die Schwierigkeiten der DDR mit den politischen Bedingungen ihres antifaschistischen Selbstverständnisses begannen frühzeitig. Bereits Ende der 40er Jahre hatte das vormalige KZ die Funktion der Ehrung und Mahnung; mit der Einweihung der Gedenkstätte 1959 am Rande von Militärflächen und des KZ-Terrains auf aufgeschüttetem Gelände wurden neue Fakten geschaffen. Die frühere SS-Kommandantur konnte erst 1984 ins Gedenkstättenkonzept einbezogen werden. Die dortige Ausstellung stand, so die Schriftstellerin Hedda Zinner, im Zeichen des »legitimatorischen Antifaschismus«. Erst mit dem Abzug der russischen Truppen Anfang der 90er Jahre wurde das gesamte Lager zugänglich.
Ehrenbürgerin in Heppenheim
Die Einweihungsrede hielt 1959 die ehemalige KZ-Gefangene Rosa Thälmann. Deutsche und österreichische Linke dominierten seitdem und bis zum Ende der DDR das Bild von der Häftlingsgesellschaft. An der einstigen Lagermauer wurden die Überreste der Toten in einem Massengrab beigesetzt. Auf der Mauer fanden sich die Namen ihrer Heimatländer. Der Name des 1948 gegründeten Staates Israel stand dort nicht. Doch bei der Feierstunde 1959 trug ein FDJler die blauweiße Fahne. Auch 1965, zum 20. Jahrestag der Befreiung, wehte Israels Flagge in Ravensbrück.
Nach 1967 wurde Antizionismus in der DDR zur Staatsdoktrin. Judith Buber Agassi sieht ihn in der Kontinuität des Antisemitismus. Sogar auf der ursprünglichen Einladungsliste zur 50-Jahr-Feier habe nur der Namen eines einzigen Israelis gestanden, obwohl allein 700 Überlebende nach der Befreiung nach Israel gingen. Die schließlich gecharterte Boeing konnte dann gar nicht alle israelischen Ravensbrück-Überlebenden aufnehmen.
Sie gedachten der Opfer eines Massenmords, der so gründlich exerziert wurde, dass ab 1942 die Konzentrationslager in Deutschland offiziell »judenfrei« waren. Doch im August 1944 setzte mit dem Vormarsch der Roten Armee eine Flut von Transporten jüdischer Frauen und Mädchen aus Osteuropa ein. Zugangs-, Bestell- und Überstellungslisten dokumentieren den Bedarf der Rüstungsindustrie am Sklavenmarkt Ravensbrück. Mit der Evakuierung von Auschwitz wurde in Ravensbrück eine Gaskammer installiert.
Damit hat sich Judith Buber Agassi detailliert beschäftigt. Im Juni 2010 stellte sie die deutsche Übersetzung ihres Buches über die jüdischen Frauen im KZ Ravensbrück vor, ein Werk von soziologischer Genauigkeit. Schon vor ein paar Jahren, 2004, wurde die damals 80-Jährige Ehrenbürgerin ihres Geburtsortes Heppenheim. Als einzige aus ihrer Familie.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.