Wortkünster und Fußballnarr

»Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen kann«: Eduardo Galeano wird 70

  • Gerhard Dilger, Porto Alegre
  • Lesedauer: 5 Min.
Während der WM in Südafrika war er als Interviewpartner noch gefragter als sonst. Und das, obwohl er an seiner Haustür mit einem handgeschriebenen Schild warnte: »Wegen Fußball geschlossen«. Uruguays prominentester Fußballfan ist zugleich einer der bekanntesten literarischen Botschafter Lateinamerikas: Eduardo Galeano. Seine Landsleute, aber auch Globalisierungskritiker weltweit verehren ihn, und seitdem er vor drei Jahren einen Lungenkrebs überstand, wird er mit Preisen überhäuft. Heute wird der undogmatische Sozialist 70 Jahre alt. Zu seinem Geburtstag ist er wie üblich verreist.

Eduardo Hughes Galeano wurde am 3. September 1940 in Uruguays Hauptstadt Montevideo geboren. Seine publizistische Laufbahn begann er bereits als Jugendlicher, mit 21 leitete er die linke Wochenzeitung »Marcha«, anschließend den Verlag der Universität von Montevideo. Vor der Militädiktatur in seiner Heimat floh er 1973 ins Exil, zunächst nach Argentinien, anschließend nach Spanien, wo er bis 1985 blieb.

Mit »Die offenen Adern Lateinamerikas« (1971) gelang ihm ein Klassiker linker Geschichtsschreibung. Polemisch und parteiisch schildert er darin die Ausbeutung des Subkontinents durch Europäer und Nordamerikaner sowie den Widerstand der Eroberten – in beiden deutschen Staaten machte das Buch Furore. 2009 war es wieder in aller Munde, als Venezuelas Präsident Hugo Chávez seinem US-Kollegen Barack Obama in Exemplar davon überreichte. Anschließend schnellte es in der Amazon-Bestsellerliste nach oben, im Peter-Hammer-Verlag erschien es wenig später in neuer Übersetzung. In den 1980ern wandte sich Galeano der kurzen Dokumentarprosa zu. Die Trilogie »Erinnerung an das Feuer« war das erste vielfach übersetzte Werk dieses Genres. In Hunderten chronologisch geordneten kleinen Geschichten nähert er sich abermals der Geschichte Lateinamerikas.

«Auch wenn sich mein Stil sehr verändert hat, bereue ich nichts, was ich geschrieben habe», sagt er rückblickend. Bisweilen werfen ihm deswegen Kritiker, Ex-Linke zumal, ein zu starres, manichäisches Weltbild vor. »Die Unterwicklung ist keine Etappe der Entwicklung, sie ist ihre Folge«, schrieb er etwa 1978 in einem Nachwort zu den »Adern«.

Aber hat sich Lateinamerika seit der Ära der Militärdiktaturen nicht grundlegend verändert, gerade durch die rosarote Welle der Nullerjahre? Galeano bleibt skeptisch. Die Spielräume der fortschrittlichen Regierungen seien eng, sagt er. Ihre Bemühungen begleitet er mit kritischer Sympathie und hält sich mit öffentlichen Vorhaltungen zurück. Er versteht sich gut mit Chávez oder Evo Morales. Bei der Amtseinführung des bolivianischen Indígena-Präsidenten 2006 war er ebenso dabei wie zweieinhalb Jahre später, als der Befreiungstheologe Fernando Lugo in Paraguay die Präsidentenbinde umgehängt bekam.

Damals setzte er sich für seinen nicaraguanischen Freund Ernesto Cardenal ein und sorgte hinter den Kulissen mit dafür, dass Daniel Ortega nicht nach Asunción kam. In seiner Heimat engagierte er sich gegen die Eukalyptus-Monokulturen und den Bau von Zellulosefabriken und wurde deshalb jahrelang von vielen alten Freunden in der Linksregierung geschnitten. Der vormalige Staatschef Tabaré Vázquez trägt es ihm bis heute nach.

Doch in erster Linie, ja mehr denn je, ist Galeano Schriftsteller. Aus seiner Abneigung gegenüber aufgeblasener Rhetorik macht er keinen Hehl. »Ich kämpfe gegen die Inflation der Wörter, ich suche nach Worten, die besser sind als die Stille«, sagt er. Seine Technik hat er weiter verfeinert. Das Feilen an seinen Minimaltexten sei viel aufwändiger als lange Essays zu schreiben, bekennt er, »ich schreibe sie zehn, 20, 30 Mal um. Es sind Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen kann«.

»Fast eine Weltgeschichte: Spiegelungen«, letztes Jahr auf deutsch erschienen, besteht aus 600 solcher »Gedichte, die so tun, als seien sie Prosa«. Illustriert ist das Werk wie gewohnt mit kleinen Vignetten. Diesmal sind es »Monster und Fabelwesen«, die von Künstlern aus der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert stammen. Wieder gibt Galeano den »Unsichtbaren« eine Stimme, vor allem »den Frauen, den Schwarzen, den Indígenas, den Menschen des Südens«, wie er sagt. Mit wenigen prägnanten Sätzen wirft er überraschende Schlaglichter auf Hildegard von Bingen oder Louise Michel, Alexandra Kollontai oder Billie Holiday. Aber auch anonyme Helden wie ein Kinderarbeiter aus Pakistan oder ein brasilianischer Müllsammler werden zu Protagonisten, ebenso wie Tiere und Flüsse. »Die Indígenas lehren uns, dass wir Teil der Natur sind, Verwandte aller, die Beine, Pfoten, Flügel oder Wurzeln haben«, schrieb er vor Monaten in seinem Grußwort zum alternativen Klimagipfel im bolivianischen Cochabamba, »die Menschenrechte und die Rechte der Natur sind zwei Namen für dieselbe Würde«.

Jenseits politischer und intellektueller Vorlieben hat sich Galeanos Fangemeinde schlagartig vergrößert, seitdem sein Fußball-Bestseller »Der Ball ist rund« 1995 erschien. »Fußball ist ein Zauberreich, in dem alles passieren kann«, pflegt er den kolumbianischen Trainer Francisco Maturana zu zitieren. Mit Begeisterung verfolgte er das gute Abschneiden der uruguayischen Elf bei der WM in Südafrika. »Uruguay ist ein äußerst fußballverrücktes Land, hier schreien alle Babys bei ihrer Geburt Gooooooool!!!!«, meinte er. »Als ich das Schild an meiner Haustür abhängte, hatte ich 64 Spiele gespielt, ein Bier in der Hand, ohne mich aus meinem Lieblingssessel zu bewegen«.

»Überfluss und Reichtum, Nord und Süd. Niemals stehen sie sich unter gleichen Bedingungen gegenüber – weder im Fußball noch sonstwo, egal, wie demokratisch die Welt zu sein vorgibt. In Wahrheit gibt es nur einen Ort , wo sich Nord und Süd auf Augenhöhe begegnen: Fazendinha an der Amazonasmündung in Brasilien. Der Äquator teilt den Fußballplatz, jede Mannschaft spielt eine Halbzeit in der südlichen und in der nördlichen Hemisphäre. Das ist der einzige Platz auf dieser Welt, an dem Gerechtigkeit herrscht. Überall sonst ist der Kampf ungleich, denn die reichen und die armen Länder messen sich nie unter gleichen Bedingungen.«
Eduardo Galeano

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