Akademisch, alleinerziehend – arbeitslos

Bildung und Fleiß schützen vor Armut? Ein modernes Märchen

  • Katharina Lindner
  • Lesedauer: 9 Min.
Armut, die man nicht sofort sieht.
Armut, die man nicht sofort sieht.

Aus bestem Elternhaus, das Studium in Bestzeit mit Eins, 20 Jahre Berufserfahrung – trotzdem bekommt Eva Weinheim* keinen Fuß auf den Ersten Arbeitsmarkt. Armut hat viele Gesichter. Arbeitslosen Akademikern zeigt sie ein besonders hässliches, entlarvt sie doch die Gewissheit, Bildung und Fleiß böten Sicherheit, als modernes Märchen.

Auf den ersten Blick wollen sich Eva Weinheim (40) und ihre Wohnung so gar nicht als typisch arm präsentieren: Bücher in den Regalen, Strickzeug auf dem Tisch. Dennoch: Sie ist eine von 1,3 Millionen alleinerziehenden Müttern in Deutschland. 31 Prozent von ihnen leben unter der Armutsgrenze. Armut, die man nicht unbedingt sieht. Eva liest Kafka, die Kinder besuchen das Gymnasium. Ein Widerspruch? »Nein«, sagt sie, »es ist ein Irrtum, dass ein hoher Bildungsstand vor Armut bewahrt. Wir leben von etwa 1000 Euro im Monat.« Damit ist Eva relativ arm, sie hat weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens eines Bundesbürgers zum Leben. Armut gilt als Zustand gravierender sozialer Benachteiligung und geht mit einem Mangel an Gütern und Dienstleistungen sowie mit Einschnitten im sozio-kulturellen Bereich einher. Was das für den Alltag bedeutet, kann sich jemand, der nicht arm ist und es noch nie war, nur schwer vorstellen.

Als Tochter eines Arztes wurde Eva in eine Bonner Villengegend hineingeboren. Ein guter Start ins Leben? Mitnichten, denn hinter der Fassade hagelte es Prügel und Demütigungen. Eva flüchtet mit 17, beginnt schließlich ein Studium, doch Geldmangel zwingt sie zum Abbruch. Sie beginnt eine unbezahlte Ausbildung im Rettungsdienst und bringt ihren Unterhalt durch diverse Jobs auf. »Über 50 waren es«, erklärt sie. »In der Fabrik am Band oder Regale einräumen, ich hab alles gemacht.«

Als eine Festanstellung greifbar ist, scheint es bergauf zu gehen. Auch die Beziehung zu ihrem späteren Ehemann, den sie auf der Rettungswache kennen lernt, gibt ihr Halt. Doch dann wird Eva ungeplant schwanger. »Wir lebten von einem Gehalt, erst zu dritt, später zu viert.« Eine Erbschaft ermöglicht einen Hauskauf. Jan, der mit seinem Job trotz Überstunden die Familie nicht ernähren kann, eröffnet mit einem Freund einen Laden, der anfangs gut läuft. Nach einem Einbruch und einer Versicherung, die die Zahlung verweigert, ist auch dieses Kapitel beendet.

Jan findet einen Job als Berater. Ein Großteil des Gehalts ist provisionsabhängig. Die Familie hat gerade einmal 200 Euro Haushaltsgeld im Monat. Geld von den Eltern stopft die Löcher nur kurz. »Ich wollte es nicht«, erklärt Eva, »aber ich nahm es. Kauf dir was Schönes, sagten meine Eltern, vielleicht, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.« Sie kauft davon Notwendiges: Schuhe für die Kinder, Milch und Brot. Die Schulden, die der Laden hinterlassen hat, drücken. Eine zweite Ausbildung scheitert an dem Betreuungsproblem: »Kindergartenplätze gab es nur bis mittags, für unter Dreijährige wurde keine Betreuung angeboten. Beide Eltern voll berufstätig, Schichtdienst und zwei kleine Kinder – das ging nicht. Allein die Essenkosten der Kita beliefen sich pro Kind auf 70 Euro monatlich. Da hab ich abgebrochen. Das einzige, was zeitlich machbar war, war ein Studium. Da es Geld kostete, statt etwas einzubringen, raste ich in Rekordzeit da durch.« Drei Semester unter der Regelstudienzeit ihrer Fächer Geschichte, Soziologie und Gender, trotzdem schließt sie mit Eins ab.

Haushalt, Familie, Uni, stets die Angst, es finanziell nicht zu schaffen, das Haus zu verlieren, die Kinder nicht mehr versorgen zu können. Eva lernt nachts, kommt am Tag ihren Pflichten nach, jobbt nebenbei. Oft ist sie zu müde, um den Kindern zuzuhören, nachts halten sie die Angst vor der Zukunft und die sich stapelnden Rechnungen wach. »Für BaFöG war ich zu alt und mein Vater zu reich.« Eine elterliche Unterhaltspflicht gibt es nicht, die Tochter hat ja bereits eine Ausbildung abgeschlossen.

Mit der Einschulung der Tochter löst sich das Betreuungsproblem nicht, denn dem Kind wird ein Platz an der Nachmittagsschule verweigert. Der Hauskauf stellt sich als Nepp heraus, die Raten sind zu hoch. Das Paar entfremdet sich. Was verbindet, sind die Kinder und die Schulden. »Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Auf dem Land einen Job nach dem Studium zu finden, war undenkbar. Die Betreuungssituation wurde nicht besser. Man geht scheinbar davon aus, ein achtjähriges Kind sei alt genug, um den ganzen Nachmittag allein zu bleiben. Als Jan und ich finanziell das Limit erreichten, war auch unsere Liebe am Ende.« Wenn sie so spricht, könnte man meinen, sie habe ihre Entscheidungen gründlich durchdacht. Als sei es leicht gewesen, die Familie aufzulösen und das Haus aufzugeben. Doch in Evas Augen schimmern Tränen. Sie ist eine von denen, die es nicht geschafft haben, weiß sie. An irgendeiner Stelle falsch abgebogen – doch wo?

Wieder fängt Eva von vorn an, nun allein mit zwei Kindern. Wohnungssuche, Renovierung, Umzug, Jobs und Abschlussprüfungen, alles gleichzeitig. Nach dem Studium wartet Hartz IV. Die Tochter wird krank, eine chronische Darmentzündung. Das Kind braucht teure Medizin, psychologische Betreuung und muss oft in die Klinik. Für den Arbeitsmarkt sind alleinerziehende Mütter mit kranken Kindern keine potenziellen Kandidatinnen. Eva legt im Alltag einen Spagat hin, um den Kindern und allen Verpflichtungen gerecht zu werden. Als das Haus verkauft ist, fließen 2000 Euro auf ihr Konto. »Das Geld war sofort weg. Renovierung, Umzug, Möbel – vieles muss neu angeschafft werden, wenn man sich trennt. Das Geld war weg und die ARGE hatte mich falsch beraten, als es hieß, dies liefe unter Eigenbehalt. Plötzlich stand das Wort Leistungsbetrug im Raum.

Für Fälle wie Eva W. kennt Hartz IV keine Lösung, nur Sanktionen. »Aber wie hätte ich dieses Geld zum Leben verwenden können, wenn ich doch Wandfarbe, Geschirr und Möbel kaufen musste?«, fügt Eva hinzu. Sie kündigt Hartz IV, um der Betrugsanzeige zu entgehen. Als nichts mehr geht, springt ihr Vater ein: Die Hand, die ihr das Geld reicht, ist dieselbe, die sie damals verprügelt hat. Daran denkt sie bei jedem Schein. Jan zahlt Unterhalt, weniger als vorgeschrieben, trotz Vollzeitjob lebt er weit unter dem Selbstbehalt.

Eva ist hoch qualifiziert. Das Amt will ihr Stellen vermitteln: »Schichtbetrieb in der Wurstfabrik. Oder eine auf ein halbes Jahr befristete Stelle am anderen Ende Deutschlands. Ich sollte halt umziehen. Die Kinder? Egal. Zwischendurch machte ich alles, was sich bot: putzen, Umfragen, kellnern. Von Arbeitnehmern wird erwartet, sich für ein paar Kröten zu verbiegen, aber die meisten Arbeitgeber sind Familienkiller! Die Politik sorgt nicht für dringend notwendige Verbesserungen.«

Was würde helfen? »Betreuungsangebote, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen richten. Mehr Hilfe für Alleinerziehende, flexiblere Arbeitgeber und Arbeitszeiten. Teilzeitstellen, die mehr als einen Hungerlohn bieten.« So einfach ist das? »Ja, so einfach wäre das. Das Problem ist, dass keiner von denen in Berlin eine Ahnung hat, wie sich eine solche Situation anfühlt. Sie schwingen große Reden, aber in Wahrheit ist unser Kampf für sie wie Leben von einem anderen Planeten. Die Realität hat mit der Politik, wie sie derzeit gemacht wird, nichts mehr zu tun.«

Aber es gibt doch ein soziales Netz, oder? Eva zuckt mit den Schultern. »Vielleicht, aber nicht für mich. Ich erhalte nicht einmal Wohngeld – mein Einkommen ist zu gering, man will mich zur ARGE abschieben! Ein Teufelskreis. Dabei entsprechen wir nicht dem typischen Bild von Armut. Von wegen Bildungsferne, Kindesvernachlässigung, Faulheit!« Die Akademische Berufsberatung der ARGE hatte sie acht Wochen auf einen Termin warten lassen, um dann zu sagen: »›Für Soziologen haben wir nix.‹ Für die Arbeitsagentur bist du als Mensch nichts wert. Nur ein Kostenfaktor, und wenn du nicht funktionierst, entsorgt man dich wie eine kaputte Maschine.« Das Amt unterbreitete ihr nur nutzlose und unsinnige Angebote. Ein Bewerbungstraining sollte sie absolvieren. Dass sie selbst solche Seminare schon unterrichtet hatte, interessierte nicht.

Eva hält sich und ihre Kinder über Wasser. Sie arbeitet jetzt freiberuflich als Lektorin. Manche Woche kommt kein einziger Auftrag. Ein paar Euro bringen auch die Erste-Hilfe-Kurse, die sie gibt. Sie hat immer mehrere Jobs gleichzeitig. Der Kontakt zu ihren Eltern ist abgebrochen. Manchmal hält sie sich für eine Versagerin, besonders wenn sie sieht, wie jüngere Leute auf der Überholspur des Lebens an ihr vorbeiziehen. Teure Urlaube, ein Pool im Garten und diverse Statussymbole, das sind Botschaften, die weh tun, denn die Durchstarter sind oftmals nicht besser ausgebildet als sie selbst. Aber viele von ihnen haben keine Kinder, und die wenigsten sind alleinerziehend. »Die Verantwortlichen in der Politik«, sagt Eva, »könnten die Rahmenbedingungen verändern. Stattdessen fördern sie Eliten und Spaltung. Nach Bologna ist vielleicht nicht einmal mehr mein Magisterabschluss etwas wert.«

Auch unter Akademikern nehmen Armut und prekäre Beschäftigung zu. Im Jahr 2009 stieg die Arbeitslosigkeit unter Akademikern um 11,9 Prozent an, wobei zahlreiche Uniabsolventen in dieser Statistik nicht auftauchen, weil sie sich mit Minijobs oder Praktika durchs Leben schlagen. Geisteswissenschaftler gelten als besonders armutsgefährdet, Stellen sind rar, gut bezahlte erst recht. Oft klafft eine große Lücke zwischen den verlangten Qualifikationen und den gebotenen Konditionen diverser Firmen. Nicht selten werden eine erstklassige Promotion und spezifische Fähigkeiten, etwa die Beherrschung von drei oder vier Fremdsprachen, verlangt. Nicht wenige Arbeitgeber bieten den Bewerbern dafür einen befristeten, lausig bezahlten Teilzeitjob.

Was bedeutet Armut im Alltag? »Man weiß heute nicht, was übermorgen auf den Tisch kommt, ob überhaupt was auf den Tisch kommt. Man kauft Second-Hand. Geburtstage sind unangenehm, selbst für kleine Geschenke muss eisern gespart werden. Für Kultur, Freizeit und soziale Kontakte bleibt keine Zeit, weil man von Job zu Job hetzt, um überhaupt klarzukommen.« Oft fühlt sich Eva einsam. »Es kommt mir so vor, als sei ich die Einzige, die durch alle Raster fällt. Von der Unterschicht, eigentlich Leidensgenossen, wird sie skeptisch oder feindselig beäugt: »Denen bin ich suspekt. Zu bürgerlicher Stallgeruch.« Aber sie ist auch weit weg von der Mittelschicht. »Für Zerstreuung fehlen Zeit und Geld. Kein Haus mehr im Grünen, gespendete Klamotten. Worüber soll man sprechen? Die neueste Ausstellung, den jüngsten Roman, Politik und Wirtschaft, während die Gedanken um den leeren Kühlschrank kreisen?«

Und was ist das Schlimmste? »Das Gefühl, immer tiefer einzuatmen und trotzdem keine Luft zu bekommen. Ablehnung von allen Seiten. Man gehört nicht dazu und spürt das deutlich. Die Unsicherheit, Existenzängste – stehen wir morgen auf der Straße? Wird die Heizung abgestellt? Ich komme nie zur Ruhe.« Die Ängste wachsen. Ein Arztbesuch steht an? Lieber nächstes Quartal. Herd oder Waschmaschine kaputt? »Für diesen Fall hab ich mir zwei Euro zurückgelegt.« Zwei? »Ja, für den Strick zum Aufhängen.« Sie meint das nicht ernst. Der Galgenhumor hilft ihr, das alles zu ertragen. Die Abhängigkeit, immer Schulden, ständig betteln müssen, bei den Eltern, der Gesellschaft, den Behörden. Und dieses Gefühl von Ohnmacht: »An die Rente mag ich gar nicht denken. Egal, was ich mache, ich komme da nicht raus.« Eva braucht Arbeit, aber der Arbeitsmarkt braucht sie nicht.

Eva hofft, dass ihre Kinder später bessere Chancen haben werden. Doch die Hoffnung ist nicht groß. Die Ware Bildung boomt. Ein Studium kostet Geld. Geld, das sie nicht hat. Und selbst wenn es bezahlbar wäre, was würde es nutzen? Dass Bildung und Fleiß keine Garantie für eine gesicherte Existenz sind, diese Lektion haben die Kinder bereits gelernt.

*Name geändert

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