Das Malheur mit den Menschenrechten
Relativ wenig Tanz bot das 22. Berliner Festival »Tanz im August«
Auch der 22. »Tanz im August« versprach große Erlebnisse, auch die diesjährige Ausgabe des größten internationalen Festivals für zeitgenössischen Tanz innerhalb Deutschlands hielt dieses Versprechen nur bedingt ein. Innerhalb eines Jahres entstehen weltweit eben nicht nur künstlerische Höhepunkte; und auch der Geschmack der Kuratoren wiegt mit. Zunehmend ist eine fatale Hinwendung zu wort- und kopflastigen Produktionen zu beklagen, kommt dem »Tanz im August« der Tanz abhanden, wie weit man den Begriff auch fassen mag. Dass diesmal die Menschenrechte unter den Themen einen prononcierten Platz eingenommen haben, ist zu begrüßen, wenngleich die selbst gestellte Aufgabe selten rein tänzerisch gelöst wurde. So ist das mit Kompromissen.
Ein heißes Eisen packte der Eröffnungsbeitrag an. In »Gardenia« verhandeln Alain Platel, sein Koautor Frank Van Laecke und ihre Ballets C de la B aus Gent die Freuden und Beschwerlichkeiten von Transsexualität. Die reale Schließung eines Travestielokals gab den Auslöser für eine fiktive 100-Minuten-Story um die zur Frau operierte Schauspielerin Vanessa Van Durme und Freunde weit jenseits der 50. Zu welch strahlender Personality die Herren im weiblichen Glitzerfummel aufblühten und wie viele Schmerzen sie diese »Häutung« gekostet haben mag, war bewegend zu sehen.
Was eine im Maghreb geborene, in Frankreich lebende Tänzerin fühlt, wenn sie sich arabischer Ganzverschleierung unterzieht, damit spielte Héla Fattoumi in ihrem gemeinsam mit Éric Lamoureux entwickelten Solo »Manta«. Geborgenheit unter der Verkleidung, Schönheit der stofflichen Form, Objektsein infolge Verlusts der Individualität, plakative Emanzipation hin zur modernen Europäerin – eine Frau in zweispältig ehrlichem Ringen mit einem gerade in Frankreich heiß debattierten Thema.
Bis auf ein Solo verzichtet »Deserve« von Simone Aughterlony & Jorge Léon mit Sitz in Zürich, Berlin, Brüssel fast gänzlich auf Tanz, greift dafür ein brisantes Sujet auf. Wie Mädchen aus Indonesien als Haushaltshilfen in Europa drangsaliert, bis zum befreienden Mord an den Quälern getrieben werden und nur noch ein Fall für die Justiz sind, dafür nutzen die fünf Spieler eindringlich dokumentarisches Material. Dass alle schriftlich fixierten Human Rights im weltweiten Alltag wenig taugen, weist William Forsythes 150-Minuten-Performance »Human Writes« nach. Seine Tänzer und für Berlin die von Sasha Waltz versuchten, Kernsätze der UN-Menschenrechtscharta aufzuschreiben: Physische Begrenzungen wie Gefesseltsein hindern sie daran und stehen so als Metapher für die unzulängliche Umsetzbarkeit realer Rechte in die Praxis.
Mit dem Menschsein im wirtschaftlich boomenden China sowie der Wahrnehmung von Chinesen im Ausland befasst sich selbstreflexiv Rubatos Kreation »Look at me, I'm Chinese«. Getanzt wird famos, am Ende wirkt das Stück indes wie der Gang durch einen bunten Asia Shop. Bis ins Letzte durchgearbeitet hat Lemi Ponifasio seine Abrechnung mit der Unterdrückung der Ureinwohner Neuseelands. »Tempest: Without a Body«, vom Butoh beeinflusst, schafft rätselhafte Szenen voller Suggestivkraft in ganz eigener Erzählweise. Wie Langsamkeit, Licht, Kostüm, Darstellung, soziales Anliegen zum künstlerischen Erlebnis verschmelzen, machte das Stück zum Festival-Highlight.
An 16 Tagen gab es beim »Tanz im August« 38 Produktionen aus 19 Ländern in allerlei Spielstätten zu besichtigen. In der Rubrik Umgang mit Geschichte widmeten sich mehrere Abende dem 2009 verstorbenen Merce Cunningham. Rekonstruierte Boris Charmatz mit Ex-Tänzern der Cunningham-Company und nicht durchgängiger Fortune nach einem Fotoband das Oeuvre des Postmodern Dance-Altmeisters, so schuf Charmatz' Landsmann Jérôme Bel mit dem Solo »Cédric Andrieux« das berührendste Personalporträt eines Festivals, das auch jungen Choreografen ausgiebig Chancen bot.
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