Jeder für sich?

Vier Bewegungsvertreter im Gespräch über die Herbstproteste und warum es nicht eine gemeinsame Großdemo gibt

  • Lesedauer: 11 Min.
Viele Seiten buhlen derzeit um Aufmerksamkeit für ihr Thema: Bürgerrechtler sind heute auf der Straße, die Anti-Atom-Bewegung will am nächsten Wochenende das Regierungsviertel umzingeln, wenig später blockieren Krisenbündnisse die Banken und die Gewerkschaften wollen erst in den Betrieben und dann auf der Straße für Unruhe sorgen. Wer alle Protesttermine wahrnehmen will, dessen Terminkalender ist voll. Das ND hat Vertreter von vier Protestbewegungen zum Gespräch in die Redaktion eingeladen. FELIX WERDERMANN und INES WALLRODT fragten nach: Machen sich die Bewegungen gegenseitig Konkurrenz? Warum gibt es nicht eine konzertierte Aktion? Schrebergartendenken oder ausgetüftelte Protestdramaturgie?

Jedes Jahr ist es dasselbe: Die Protestbewegungen kündigen einen »Heißen Herbst« an. Hängt der Begriff inzwischen nicht allen zum Halse raus?

Luise Neumann-Cosel: Es mag sein, dass der Begriff irgendwie abgehobelt daherkommt, aber von der Resonanz kann ich das überhaupt nicht sagen. Da gibt es keine Abnutzungserscheinungen – im Gegenteil.

Tim Laumeier: Der »Heiße Herbst« ist eher als Warnung an die politischen Gegner gedacht. Als Kampfparole zum Mobilisieren ist er nicht so geeignet. Und ob es dann tatsächlich ein »Heißer Herbst« wird, kann man erst im Nachhinein sagen.

Am Samstag geht es los, dann ist fast an jedem Wochenende eine Demo. Ist der Terminkalender dann nicht zu voll?

Constanze Kurz: Demonstrieren stärkt die Hinternmuskulatur. Man kriegt frische Luft und trifft nette Leute. Man kann also auch dreimal demonstrieren gehen.

Aber warum nicht eine gemeinsame Demo mit 100 000 Menschen organisieren, statt zig mit 10 000?

Pieper: Warum sollen das denn automatisch mehr sein, wenn alles auf einen Demo-Termin gelegt wird? Die Leute wollen zu einer Demo oder einer Aktion mit einem konkreten Thema. Ich glaube nicht, dass sie ohne Weiteres auch für so ein Sammelsurium von Themen zu gewinnen sind.

Außerdem können auch große Demonstrationen in der öffentlichen Wahrnehmung untergehen. Über die 100.000 Menschen am 16. Mai 2009 in Berlin wurde kaum berichtet.

Aber viele Menschen interessieren sich doch für mehr als ein politisches Thema. Nehmen sich nicht die Bewegungen gegenseitig die Leute weg, wenn sie zu vielen einzelnen Demos aufrufen?

Wolfgang Pieper: Ich glaube, im Moment machen wir uns da wenig Konkurrenz. Ver.di unterstützt beispielsweise auch die Demonstration gegen Überwachung am 11.9.

Neumann-Cosel: Ich glaube auch nicht, dass man sich gegenseitig was wegnimmt. Zum Teil gibt es personelle Überschneidungen. Aber viele Leute überlegen sich: Ich habe vier Stunden Zeit und die investiere ich dort, wo man sieht: Hier brennt es gerade, hier macht es einen Unterschied, ob ich auf die Straße gehe oder nicht.

Und wo brennt es gerade? Ist Atomkraft das wichtigste Thema dieses Herbstes?

Neumann-Cosel: Wenn Sie mich fragen, ja. Es fallen ganz viele wichtige Entscheidungen in diesem Herbst. Deswegen spitzt sich das auf einen November in Gorleben zu.

Pieper: Ich vermute auch, dass die Anti-Atom-Bewegung wieder stärker wird. Nachdem vor einigen Jahren wichtige politische Entscheidungen getroffen waren, ist der Protest etwas abgeflaut. Aber jetzt wird er reaktiviert.

Anti-Atom ist also für alle das Top-Thema?

Kurz: Man sollte auch die Demo gegen Überwachung nicht vergessen, die den Gedanken einer überwachungs- und repressionsfreien politischen Arbeit in sich trägt. Dafür braucht man die Möglichkeit, den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können und nicht ohnehin schon voll überwacht zu sein.

Laumeier: Für mich lautet das Topthema: Aus den vielen verschiedenen Krisen – soziale Krise, Demokratiekrise, ökologische Krise – daraus eine politische Krise für die Herrschenden zu formieren. Es geht darum, deutlich zu machen, dass es ausreichend viele Menschen gibt, die sich gegen die Vorhaben der Bundesregierung wehren.

Und das verdeutlicht man, indem man jede Woche eine Demonstration organisiert?

Laumeier: Besser wäre natürlich ein Generalstreik. Aber mir scheint, der ist noch ein paar Tage entfernt. Das Problem: Demonstrationen bewegen vor allem dann, wenn sie zugespitzt sind und ein aktuelles Thema haben. Zu allgemeinen Demonstrationen gegen die Gesamtkrise wird kaum jemand kommen. Wir haben es ausprobiert.

Also besser auf ein spezielles Thema konzentrieren? Wie war es denn beim G8-Gipfel in Heiligendamm. Da gab es sehr verschiedene Themen – von der Armutsbekämpfung über die Finanzmarktregulierung bis hin zu Klimawandel. Trotzdem gab es eine große gemeinsame Demonstration.

Laumeier: Die G8 als Symbol war schon ausreichend. Das Thema hieß: Die reichsten Industrienationen der Welt entscheiden über das Schicksal der restlichen Welt.

Kurz: In Heiligendamm gab es auch viele konkrete Ansatzpunkte für Kritik. Da gab es den Zaun, die Tornados und die Spähpanzer, und da gab es die unglaublichen Kosten.

Neumann-Cosel: Trotzdem: Die Zusammenarbeit bei den Anti-G8-Protesten war unheimlich mühsam. Das hat ganz ganz viel Vorbereitung gebraucht und unendlich viele Gespräche.

Weil es Konflikte zwischen den Bewegungen gibt?

Pieper: Natürlich gibt es die auch. Aber wenn es darum geht, Bündnisse zu schließen, hat man gezeigt, dass es möglich ist, Kompromisse zu finden. An manchen Stellen gibt es Interessenskonflikte. Nicht alle Gewerkschafter sind auch dafür, dass die Atomreaktoren abgeschaltet werden.

Wie weit weg sind Gewerkschaften und Anti-Atom-Bewegung voneinander?

Pieper: Wir haben Schnittmengen, aber trotzdem spricht die Anti-Atom-Bewegung noch einmal andere Menschengruppen an als eine Veranstaltung der Gewerkschaften. Deswegen sind themenspezifische Mobilisierungen sinnvoll.

Wie ist es bei den Leuten, die am Samstag gegen Überwachung demonstrieren?

Kurz: Die »Freiheit statt Angst«-Demo wird auch von vielen Leuten besucht, die überhaupt nicht in die klassischen politischen Spektren einzuordnen sind. Die sich sehr intensiv mit der Technik befassen, aber die sich normalerweise politisch überhaupt nicht engagieren.

Aber andere würden sich schon politisch irgendwo verorten.

Kurz: In unserem Bündnis sind viele Abgeordnete vertreten. Das zieht sich von den Liberalen über die Linken und die Sozialdemokraten bis hin zu den Grünen. Nur die Schwarzen sind da nicht so sehr vertreten.

Ist das eine Eigenheit der Überwachungsgegner, dass dort nahezu alle Parteien vertreten sind?

Kurz: Das denke ich nicht. Auch in der Anti-Atom-Bewegung gibt es genügend erzkonservative Leute, die gute sachliche Gründe gegen Atomkraft haben. Die würden sich aber zum Beispiel keinesfalls für mehr soziale Teilhabe einsetzen. Deshalb lassen sich die Teilnehmerzahlen dieser verschiedenen Demos nicht einfach addieren.

Können die Spektren etwas voneinander lernen?

Neumann-Cosel: Aber sicher. Ich sehe viele Punkte, wo Bewegungen voneinander profitieren können.

Zum Beispiel?

Neumann-Cosel: X-tausendmal quer ist Teil eines Netzwerks, das nennt sich »Zugabe«. Dort schließen sich Kampagnen zusammen, die gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams machen und unterstützen sich gegenseitig.

Laumeier: Es wäre auch spannend, wenn das in den Gewerkschaften mehr verbreitet würde. Mit einer Zuspitzung in der Aktionsform wird man stärker wahrgenommen.

Pieper: Gewerkschaften sind nun mal traditionsreiche Institutionen, und somit auch eher konservativ. Aber wir haben gelernt von den Protestbewegungen, wie Greenpeace Aktionen macht. Zum Beispiel haben wir in Köln die Eisenbahnbrücke geentert und ein großes Transparent heruntergelassen. Darauf stand: »Schwarz-Gelb lässt die Kommunen ausbluten« und dabei wurde der Rhein rot gefärbt.

Sind solche Aktionen erfolgreich?

Pieper: Wir stellen auf jeden Fall fest, dass sie unseren Leuten Spaß machen. Unsere Leute müssen erst wieder lernen, sich radikalere, halblegale Aktionen zuzutrauen.

Stichwort radikal: Auf fast jeder Demo gibt es einen antikapitalistischen Block mit radikaleren Forderungen. Nervt Sie das?

Laumeier: Nein, es muss so sein, denn es reicht nicht aus, immer nur den einzelnen Sachverhalt zu erläutern. Das muss auch in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

Und was sagen die anderen?

Kurz: Der problematische Punkt am oftmals schwarzen Block ist doch die Medienöffentlichkeit. Die Medien warten darauf, dass es eskaliert, dann haben sie ein paar Bilder und dann ist das Typische wieder: Randale auf der Demo.

Pieper: Wir müssen uns aber auch an unsere eigene Nase fassen und mehr Bilder inszenieren auf den Demos, also keine Randale. Im Moment sind das manchmal richtige Trauermärsche.

Können sich die anderen Bewegungen auch etwas von den Gewerkschaften abgucken, Herr Pieper?

Pieper: Gewerkschaften bedeuten viele Mitglieder, die von daher ein großes Gewicht haben. Deswegen ist auch die Lobbyarbeit leichter.

Kurz: Eine Menge bezahlter Aktivisten sind schon eine nette Sache.

Pieper: Die machen aber auch viele andere Sachen. An erster Stelle steht, die bestehenden Rechte der Beschäftigten durchzusetzen. Den Protestbewegungen stehen völlig unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung: Während die Gewerkschaften in den Betrieben agieren, sind andere darauf angewiesen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Laumeier: Lobbyarbeit ist teilweise sehr schwierig. Für die Verkürzung der Laufzeiten von Atomkraftwerken geht das vielleicht. Wenn man aber die Wirtschaft demokratisieren will, dann werde ich das durch einfache Lobbyarbeit nicht durchsetzen können. Dafür braucht es eine gesellschaftliche Stimmung.

Also doch Massenproteste. Kann die große Demo doch noch gelingen – zum Beispiel gegen die schwarz-gelbe Koalition?

Pieper: Bislang mobilisiert jede Bewegung für ihr Thema. Aber diese Punktaktivierung kann ein Mosaikstein sein, die Leute zu überzeugen, dass auch andere Teile der schwarz-gelben Agenda ein Problem sind. Oder nehmen wir an, es finden jetzt ganz tolle Demos statt mit massenweisen Leuten und Schwarz-Gelb interessiert sich einen Käse dafür. Dann könnte es natürlich sein, dass die Bewegungen aus Unzufriedenheit wachsen und sich dann auch gegenseitig stützen. Der Protest richtet sich dann gegen die völlige Ignoranz der Regierenden gegenüber dem Volk.

Eine Bewegung für Neuwahlen – wäre das vorstellbar?

Neumann-Cosel: Ich gehe nicht auf die Straße, damit es Neuwahlen gibt. Ich setze mich auf die Straße, damit kein Castor fährt. Und das hat mit der Regierung relativ wenig zu tun, das habe ich inzwischen gelernt.

Einen Politikwechsel gibt es also nicht durch Parteien?

Kurz: Ich habe keine parteipolitischen Berührungsängste. Wir haben gute Argumente gegen technische Überwachung und das dahinter stehende Sicherheitsdenken. Und wir finden dafür in fast allen Parteien Bündnispartner, die wir mit unseren Protesten stärken. Darüber hinaus darf man sich halt auch nicht zu schade sein, in vermeintlich langweiligen Gremien mitzuarbeiten. So beteiligen sich Netzaktivisten beispielsweise an der Internet-Enquete-Kommission des Bundestags.

Neumann-Cosel: Den Überwachungsgegnern könnte es mit der FDP allerdings genauso ergehen, wie uns mit den Grünen. Gerade die Anti-Atom-Bewegung hat da nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Nun herrscht natürlich große Skepsis. Wir sagen daher: Alle sind bei unseren Aktionen willkommen und wir freuen uns, wenn wir viele sind, die auf der Straße sitzen oder auf der Straße stehen. Aber lasst bitte die Parteifahnen zu Hause, denn es ist immer noch eine Aktion der Anti-Atom-Bewegung und keine von einer bestimmten Partei. Oder von bestimmten Parteigrößen, die auch immer gerne dazukommen und das Ganze vereinnahmen.

Gibt es dafür Beispiele?

Neumann-Cosel: Ich habe das selber ganz stark bei der SPD beobachtet, die sich beim letzten Bundestagswahlkampf dieses Thema plötzlich angezogen hat und damit massiv auf Stimmenfang gegangen ist.

Vereinnahmung ist die eine Seite, auf der anderen Seite kann es durchaus vorteilhaft sein, wenn Parteien für die eigene Sache kämpfen.

Pieper: Wenn man eine Regierung hat, die die eigenen politischen Vorstellungen eins zu eins umsetzt, ist das immer leichter, als wenn man sie erst durchsetzen muss. Früher waren die Gewerkschaften noch stärker mit den Parteien verflochten als das heute der Fall ist. Das macht es heute nicht unbedingt einfacher. Die Gewerkschaften sind viel stärker darauf angewiesen, in der Öffentlichkeit zu agieren, weil der parteiinterne Weg nicht mehr so funktioniert.

Ist das ein Ergebnis des Sozialabbaus unter Rot-Grün, bei dem Gewerkschaften lange Zeit stillgehalten haben? Nach dem Motto: Die SPD ist an der Regierung, da brauchen wir nichts tun.

Laumeier: Als Gerhard Schröder seine Agenda 2010 vorstellte, da standen die Gewerkschaften nackt da und haben gesagt: »Ja, aber...« Und konnten es doch nicht verhindern. Dabei wäre es eigentlich eine wesentliche Aufgabe der Gewerkschaft gewesen, auch gegen die rot-grüne Regierung Sturm zu laufen.

Pieper: Man muss dazu allerdings auch sagen, dass es nach der knappen Wiederwahl eine Wende in der rot-grünen Politik gegeben hat. Da haben viele Gewerkschaften erst einmal ihren Burgfrieden mit dieser Regierung geschlossen. Wir von ver.di haben aber dagegen gehalten. Dies hat bei der rot-grünen Bundesregierung zu spürbarer Verärgerung geführt. Es herrschte ein eisiges Klima.

Welches Verhältnis von Bewegungen zu Parteien wäre wünschenswert?

Laumeier: Möglichst parteiunabhängig, möglichst frei von Sachzwängen – wenn es darum geht, sich politisch selber zu artikulieren. Denn da sind soziale Bewegungen häufig freier als Parteien.


11. September, Berlin: Demonstration »Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn« www.freiheitstattangst.de


18. September, Berlin: »Atomkraft? Schluss jetzt!« – Demo mit Umzingelung des Regierungsviertels www.anti-atom-demo.de

29. September: EGB-Aktionstag »Nein zu Sparmaßnahmen – Vorrang für Beschäftigung und Wachstum« – mit Gewerkschaftsdemonstrationen unter anderem in Brüssel, Dresden, Salzgitter www.gerecht-geht-anders.de

26. November, Berlin: Bundestagsbelagerung »Blockade des Sparpakets« www.kapitalismuskrise.org

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