Die angekündigte Katastrophe
Lukrativ sollte die Mine San José sein – auf Kosten der Sicherheit
»Überraschend ist das nicht gekommen«, sagt Javier Castillo, der rührige Gewerkschaftssekretär im chilenischen Kupfer- und Goldbergwerk San José. Am Telefon schildert der 42-jährige Bergmann, warum 33 seiner Kollegen seit dem 5. August in 688 Meter Tiefe »eingesperrt sind, ohne dass sie ein Verbrechen begangen haben«.
Mitte der 80er Jahre, in Chile herrschten General Augusto Pinochet und seine neoliberalen Wirtschaftsexperten, wurde San José von der chilenischen Aktiengesellschaft »Compañía Minera San Esteban« übernommen. Zehn Jahre später heuerte der Bohrungsspezialist Castillo dort an.
Stützwände wurden abgetragen
Was er in der Mine San José erlebte, ließ ihn zum aktiven Gewerkschafter werden. Damals sei Firmengründer Georges Kemeny von seinen Söhnen dazu gedrängt worden, die Produktionsweise umzustellen, berichtet er: »Doch die Söhne hatten vom Bergbau keine Ahnung und wollten nur mit modernen Maschinen die Produktion erhöhen. Als Chef der Bohrtruppe bekam ich für die Wartung der Geräte gerade einmal ein Zehntel der nötigen Mittel.«
Auch die gar nicht oder kaum ausgebildeten Bergleute waren mit der Umstellung überfordert. 1999 begannen sie, die Trennwände zwischen den Stollen abzutragen, um daraus Kupfer und ein wenig Gold herauszuwaschen. Statt ursprünglich 30 Meter sind heute viele nur noch zehn Meter dick. Bei ungenügender Absicherung drückt die Felsenmasse immer stärker auf die Stollen, bis es zu Bergrutschen und Einstürzen kommt.
2001 verlor ein Kumpel ein Bein, ein Jahr darauf noch einer. »Immer wieder haben wir bei der Firma und den staatlichen Aufsichtsbehörden protestiert, vergeblich«, erzählt Castillo mit ruhiger Stimme. »2003 gab es einen Rieseneinsturz in der Mine San Antonio, aber zum Glück haben wir unsere Kollegen unter der Erde noch rechtzeitig warnen können.«
Nach dem ersten tödlichen Unfall riefen die Gewerkschafter 2004 die Gerichte an und beantragten die Schließung der Mine. Zunächst mit Erfolg. Doch die Schließung wurde wieder aufgehoben. »Das Justizsystem taugt für uns nicht«, folgert Castillo, der 1998, bald nach Beginn seines gewerkschaftlichen Engagements, der Kommunistischen Partei beitrat. »Sieben Jahre später wurde ich aus der Mine herausgedrängt, aber als Gewerkschaftsfunktionär konnten sie mich nicht entlassen.«
Nach dem dritten Toten kam es 2007 zu einem weiteren Förderstopp, doch der hielt nur ein gutes Jahr. Allein in den letzten sechs Jahren verhängten die Behörden 42 Geldbußen gegen das Unternehmen. Doch zur gleichen Zeit wurde Firmenchef Marcelo Kemeny gleich zweimal als innovativer Modernisierer ausgezeichnet.
»Am 3. Juli traf es Gino Cortés. Er verlor sein linkes Bein«, erzählt Castillo. Zwei Tage zuvor hatte er mit Kollegen Bergbauminister Laurence Golborne getroffen. »Damals habe ich ihn auf die katastrophalen Sicherheitsbedingungen in San José hingewiesen«, sagt er. »Aber der Minister tat das ab und sagte, dass Arbeitsplätze die oberste Priorität sind.« Als die Gewerkschafter nach dem Unfall von Cortés am 5. Juli mit ihren Unterlagen ins Ministerium zogen, kamen sie nur noch bis zur Sekretärin von Golbornes Büroleiterin.
Und einen Monat später brach die Welt über den 33 Bergleuten von San José zusammen. Am Grubeneingang schlugen ihre Angehörigen das »Camp Esperanza« (Hoffnung) auf und bangten 17 schier endlose Tage und Nächte. Am 22. August stellten die Suchtrupps die Verbindung her. »Wir 33 sind wohlauf im Schutzraum«, stand auf einem kleinen Zettel, der durch ein elf Zentimeter schmales Rohr nach oben gezogen wurde.
Javier Castillo erinnert sich: »Stundenlang hat man die Bekanntgabe der Nachricht hinausgezögert, um dem Präsidenten einen großen Liveauftritt zu sichern.« Der Milliardär Sebastián Piñera, der im Januar als Kandidat der Rechtspartei Nationale Erneuerung zum Präsidenten gewählt worden war, konnte erst nachmittags aus dem 800 Kilometer weiter südlich gelegenen Santiago einfliegen.
»Zum Glück hat ein Kollege diese Strategie irgendwann durchkreuzt, sonst hätten die Angehörigen noch länger warten müssen«, sagt Castillo. Doch dem mediengerechten Auftritt des Staatschefs tat das keinen Abbruch. Stolz präsentierte er der Nation den Zettel, tags darauf sprach er über Walkie-Talkie mit einem der Bergleute.
Präsident profitiert von dem Drama
Piñeras Konzept ist aufgegangen: Durch das, was die chilenischen Medien meist als »Wunder« bezeichnen, soll seine Popularität von Anfang August bis Anfang September von 41 auf 53 Prozent gestiegen sein. Dabei war das Engagement der Regierung vom Unglückstag bis zu jenem 22. August verhalten, erinnert sich Javier Castillo: »Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie die Verschütteten schon bald abgeschrieben hatten.« Wie die Firma habe sie vor allem auf »äußeren Druck« reagiert, der größtenteils von den Familien der Opfer und den Gewerkschaften kam.
Für das Desaster macht Castillo die neoliberale Öffnung Chiles verantwortlich, die in den 70er Jahren unter der Pinochet-Diktatur eingeleitet wurde. Nach der Diktatur (1973 bis 1990) wurde sie fortgesetzt, der rechte Milliardär Piñera forciert sie. In den nun flugs gegründeten Reformkommissionen sitzen keine Gewerkschafter.
»Nennenswerte Abgaben, Steuern oder strenge Sicherheitsvorschriften wie in Kanada oder Australien, das gibt es hier nicht. Hier steht alles unter der unternehmerfreundlichen Logik der Pinochet-Verfassung von 1980«, sagt Castillo. Darin sei von »Arbeitsfreiheit« statt vom »Recht auf Arbeit« die Rede. »Das bedeutet: Wenn dir die Sicherheitsbedingungen nicht passen, bist du frei, dir einen anderen Job zu suchen.«
Die Gewerkschaftsarbeit wird systematisch behindert – auch von der Firma San Esteban. »Selbst heute noch erschwert man mit bürokratischen Schikanen den Zutritt zum Camp.« Von den 33 Verschütteten sind nur 12 organisiert. Insgesamt arbeiteten bis zum Unfall 150 Festangestellte in der Mine, 75 davon sind in der Gewerkschaft – »Aber die meisten erst seit Juli, nach dem Unfall von Gino.«
Die Betreiber hofften bislang, dass die Mine trotz des vergleichsweise niedrigen Kupfer- und Goldgehalts weitere 40 Jahre lang lukrativ sein könnte – die Kupferpreise steigen, allein 2009 um 216 Prozent. Die Lohnkosten hingegen sind angesichts der Knochenarbeit niedrig: Rund 1000 Dollar im Monat verdient ein Kumpel im Schnitt, halb so viel wie in den modernen Riesenminen der Multis.
Die Aufsichtsbehörden sind überlastet, landesweit verunglückten im vergangenen Jahrzehnt mindestens 373 Kumpel tödlich. Die meisten waren jung oder schon im Rentenalter, wie die Verschütteten in der Wüste. Facharbeiter im besten Alter gehen nämlich in die Großbergwerke.
»Seit Jahren haben wir gefordert, dass in San José ein Notausgang angelegt wird – umsonst«, sagt Castillo. Lauter wird seine Stimme, wenn er die »Verwaltung der Information« durch Regierung und Firmenbesitzer schildert. Die Regierung nutze das Drama in der Wüste, um von anderen schlechten Nachrichten abzulenken, etwa dem neunwöchigen Hungerstreik der Mapuche-Aktivisten in Südchile.
Dabei kann Präsident Piñera, der erst vor Wochen seinen Fernsehkanal Chilevisión verkaufte, auf die tatkräftige Hilfe der meisten Medien zählen. Chiles Presselandschaft gehört zu den einförmigsten ganz Südamerikas. »Wir haben da kaum eine Chance – aber bei den ausländischen Medien klappt es ganz gut«, sagt Castillo. Seine Position hat er unter anderem bei CNN, Telesur, dem französischen Fernsehen und Radio Nederlands ausführlich darlegen können.
Medien ignorieren politischen Kern
In Chile dagegen geht es fast nur um das Drama der Verschütteten und ihrer Verwandten. Damit ignorierten die Medien »den politischen Kern des Problems«, kritisiert Castillo, nämlich »die mangelhafte Sicherheitsgesetzgebung«. Die Minengewerkschafter hoffen jetzt auf internationalen Druck, der die Kupfergroßmacht Chile zur Ratifizierung der ILO-Konvention 176 über die Sicherheit im Bergbau zwingen soll.
Gegenüber der UN-Arbeitsorganisation verpflichten sich die Beitrittsstaaten, ihre Gesetzgebung entsprechend zu verschärfen und auch durchzusetzen. Arbeiter könnten bei Verstößen streiken, ohne deswegen Kündigungen befürchten zu müssen. »Sogar Peru hat die Konvention schon ratifiziert«, weiß Javier Castillo. »Vielleicht haben wir ja jetzt eine Chance.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.