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Pennywell und die Frauen
ANNE TYLER sorgt für gute Unterhaltung
Vielleicht sollten Sie Anne Tyler nicht unmittelbar nach Jonathan Franzens neuem Meisterwerk »Freiheit« lesen. Aber wenn Sie Desperate Housewives¸ Friends und andere anglophone Soaps mit Niveau mögen, dann werden Sie Tyler lieben. Nicht Gesellschaftskritik ist die Absicht, sondern gute Unterhaltung. Fehlender Tiefgang wird durch Realitätsnähe ausgeglichen. Und dann ein klitzekleines, freches Stück weitergeführt. Spritzig und wie eine Beauty Queen, die den nächsten Termin bei der Stylistin nur ganz knapp verpasst hat. Platzen Sie also rein in Liam Pennywells Leben, und schauen Sie, was bei ihm so geht.
In der Nacht seines Umzugs in eine kleinere Wohnung am Stadtrand wird der frisch pensionierte Privatschullehrer überfallen. Irritiert, dass ihm ein Stück Erinnerung – zwischen dem Einbruch und dem Aufwachen im Krankenhaus – fehlt, begibt sich der Sechzigjährige auf die Suche nach den verlorenen Stunden. Dabei bleibt er relativ gelassen. Denn im Grunde war er darauf eingestellt, die »letzten Jahre seines Lebens« im Schaukelstuhl mit Nichtstun zu verbringen. Vielleicht will er sich vor dem Leben verstecken? Doch das erscheint angesichts der vielen kapriziösen Frauen, die ihn umgeben, kaum möglich: Seine Exgattin Barbara, die drei Töchter Xanthe, Louise und Kitty, seine Schwester Julia und seine kurze, neue Liebe, die dicke und hässliche, aber marshmallowsanfte 38-jährige Eunice mit ihren süßen Grübchen, vereiteln jegliche Realitätsflucht.
Was ein wenig irritiert, ist die extrem traditionelle Geschlechterrollenverteilung, in der Tyler ihre Protagonistinnen agieren lässt. Ihre Frauen erfüllen alle Klischees, die einem zur Weiblichkeit einfallen. Ihre Männer – Kittys 17-jähriger Freund Damien, Eunices langhaariger Biologengatte Norman, Liams afroamerikanischer Kumpel Bundy und der an Alzheimer leidende Bauunternehmer Mr. Cope – dürfen dagegen facettenreichere Charaktere geben. Sie sind skurril, warmherzig, lebensuntüchtig und liebenswert. Persönlichkeiten, die die Welt bewegen. Im Gegensatz zu den launischen Exzessen der weiblichen Protagonisten, die irgendwie alle wabbelige, weiße Oberschenkel haben, hektische rote Flecken kriegen, so mager sind, dass ihre hervorstehenden Schlüsselbeine an Kleiderbügel erinnern, und deren Nase sich vom Sonnenbrand pellt. Frauen sind bei Tyler die Wesen, die unförmige Röcke oder gar Shorts tragen. Sie widmen ihre Zeit religiösem Fundamentalismus. Oder sind gleich depressiv, wie Liams erste Frau Millie, die sich konsequenterweise bereits mit 24 Jahren umbringt. Zugleich steckt in dieser Konsequenz aber die ironische Übertreibung, die sich in die Verlorenen Stunden durchaus auch hineinlesen lässt. Schließlich ist die echte Welt von mehr Indifferenz geprägt, als wir alle brauchen. So gesehen ist Anne Tylers Roman, sinnvollerweise in einem kuscheligen Café bei einem Caramel Macchiato XL genossen, gewiss eine amüsante Alternative zu andernfalls verlorenen Stunden.
Anne Tyler: Verlorene Stunden. Roman. Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob. Kein & Aber. 303 S., geb., 19.90 €.
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