Wiege des Reformjudentums

Vor 100 Jahren wurde in Frankfurt am Main die berühmte Westend-Synagoge eröffnet

  • Jens Bayer-Gimm, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Herbst 1910 wurde die Westend-Synagoge in Frankfurt am Main feierlich eingeweiht. Ihre Architekturgeschichte bildet Brüche und Aufbrüche der Geschichte der Juden in Deutschland im 20. Jahrhundert auf bewegende Weise ab.
»Ägyptisch-assyrischer Stil«: Die Architektur der Synagoge soll Herkunft und Anpassung widerspiegeln.
»Ägyptisch-assyrischer Stil«: Die Architektur der Synagoge soll Herkunft und Anpassung widerspiegeln.

Frankfurt am Main. »Im Glanz des gewaltigen Kronleuchters und der elektrischen Flammen, die überall aus den Wänden zuckten, wirkte die Schönheit dieses harmonischen Raumes noch bezwingender«, schilderte die »Frankfurter Zeitung« 1910 die Einweihungsfeier. Der Vorstandsvorsitzende der Israelitischen Gemeinde Frankfurt, Justizrat Julius Blau, schloss seine Ansprache mit den Worten: »Treudeutsch und jüdisch allzeit!«

Es war das 1902 gegründete »Anti-Tauf-Komitee«, das die Initiative zur Gründung der vierten Frankfurter Hauptsynagoge ergriffen hatte. Das Komitee wollte der Abkehr einer immer größeren Zahl von Juden von Judentum entgegenarbeiten, indem es die Einführung eines modernen, kürzeren Gottesdienstes in deutscher Sprache forderte. Der damit beauftragte Rabbiner Caesar Seligmann schuf einen behutsam reformierten Gottesdienst, der seine Heimstätte in der Westend-Synagoge fand.

Frauen auch im Parterre

Der reformierte Gottesdienst wirkte weit über Frankfurt hinaus. Seligmann berief 1911 eine Konferenz für das liberale Judentum in Deutschland nach Frankfurt, welche die Richtlinien für diese Glaubensrichtung beschloss. Mit seinen Vorträgen im Ausland legte der Rabbiner nach Angaben des Frankfurter Historikers Arno Lustiger mit den Grundstein für die »Weltbewegung für das liberale Judentum«.

Die Westend-Synagoge bietet in ihrem kuppelüberwölbten Zentralbau Raum für 1200 Plätze. Ins Innere gelangt, zeigt sich der zeitgenössische Beobachter der »Frankfurter Zeitung« begeistert: »Der farbige Eindruck des Baus wird durch den Akkord von Blau und Gelb bestimmt. Säulen, die mit gelbem Marmor überzogen und deren Kapitäle blau und gelb bemalt sind, tragen die Emporen der Seitenschiffe und der Wandelhalle. Die Wände sind mit gelbem und grauem Marmor in geometrischer, triangulärer Konfiguration überzogen.«

Von außen durch Jugendstilelemente gekennzeichnet, offenbarte die Westend-Synagoge vor allem im Innern einen »ägyptisch-assyrischen Stil«, beschreibt der gegenwärtige Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, der Architekt Salomon Korn. Damit sollte die Architektur ähnlich wie die darin gepflegte Reform-Liturgie zwei Beziehungen zugleich ausdrücken: die Anpassung an einen zeitgenössischen deutschen Stil und die Anbindung an die Herkunft der Juden.

Zu den architektonischen Neuerungen der Reformer gehörte, dass die Frauen nicht mehr auf die Emporen verbannt waren, sondern getrennt von den Männern im Parterre Platz nehmen durften. Eine Orgel begleitete den Gesang wie in den christlichen Kirchen. Als Architekten hatte die Jury den jungen Liechtensteiner Franz Roeckle ausgewählt, der gerade sein Studium in Stuttgart beendet hatte und mit dem Bau sein Meisterstück ablieferte.

Das Versprechen »treudeutsch allzeit!« wurde den Juden nicht gelohnt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Westend-Synagoge wie die anderen großen Frankfurter Synagogen von Nationalsozialisten in Brand gesteckt. Allerdings brannte bei ihr nur die Inneneinrichtung aus; die Mauern blieben stehen und wurden nicht abgebrochen.

1944 völlig zerstört

Der christliche Hausmeister hatte versucht, den Brandstiftern Einhalt zu gebieten, und offenbar sollten die vornehmen Wohnhäuser in der Nachbarschaft nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Polizei erstattete Strafanzeige gegen die Juden, die selbst der Brandstiftung beschuldigt wurden. Völlig zerstört wurde das Gebäudeinnere durch alliierte Luftangriffe 1944.

1950 wurde die Synagoge wieder eingeweiht. Die hessische Landesregierung hatte den Wiederaufbau beschlossen, nun aber im nüchternen, provisorischen Stil der Nachkriegszeit. Nicht nur die Innenarchitektur hatte sich gewandelt, auch der Gottesdienst: Die von den wenigen Überlebenden und jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa eingeführte Liturgie war die traditionelle orthodoxe, ausschließlich in Hebräisch gehalten und ohne Orgelbegleitung.

Eine neue Etappe markiert die Teilrekonstruktion zwischen 1988 und 1994, bei der Teile der prachtvollen Ornamente freigelegt und restauriert wurden. Salomon Korn sieht darin nicht nur die optische Anbindung an die ursprüngliche, liberale Synagoge, sondern auch den Ausdruck einer neuen religiösen Pluralität der gewachsenen jüdischen Gemeinde. Am 24. Oktober feiert sie in der rund um die Uhr von der Polizei bewachten Synagoge deren Einweihung vor 100 Jahren.

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