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Kostümierte Gegenwart

MEDIENgedanken: Mittelalter im Fernsehen

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Um das Mittelalter zu verstehen, muss man nach Mettmann fahren. Im dortigen Neandertalmuseum sind zwei Knochenbrüche zu sehen, einer an die 1000 Jahre alt, der andere um ein Vielfaches betagter, beide behandelt. Seltsam nur, dass der des Urmenschen besser verheilt ist als der aus dem Mittelalter. Denn diese Zeit, so ist bis in die Paläoanthropologie zu spüren, war eine furchtbare Epoche. Von Tyrannei, Ignoranz und Unterdrückung, Ablass, Pest und Folter gezeichnet, fanden sich Zeichen echten Fortschritts dieser epischen Gesellschaftsphase nur in den Nischen der Klöster und Zünfte. Eine finstere Epoche, so heißt es landläufig. Eine brutale, schmutzige, bildungsferne Männerdiktatur, weidlich ausgebreitet in Literatur und Film. Nur im Privatfernsehen, da ist sie quietschbunt und modisch, nicht immer leicht für einfache Menschen mit Herz, denen zwar – Vergewaltigung inklusive – oft übel mitgespielt wird. Ansonsten aber herrscht Liebe, Hoffnung, Tralala.

Im Sat.1-Streifen »Die Wanderhure« zum Beispiel, der vor wenigen Tagen ausgestrahlt wurde, läuft ein Bürgermädel zu Beginn durchs Jahr 1414, als käme es gerade aus dem Wellness-Salon. Jauchzend frönt die Schöne der romantischen Liebe zu einem makellosen Landburschen mit Kreuzbergfrisur, schlägt ihren gütig-emanzipierten Vater im Schach und ist überhaupt überraschend gebildet, geschäftstüchtig, renitent, jetztzeitig. Schon in den ersten Minuten der Literaturverfilmung finden sich also stapelweise historische Patzer. Verfaulte Zähne, verlauste Körper, verfilztes Haar in stinkenden Häusern, dreckigen Straßen, chaotischen Städten? Während die religionsfanatische Zeit des 14. Jahrhunderts in Jean-Jacques Annauds Romanadaption »Der Name der Rose« förmlich von der Leinwand stank und selbst Monty Pythons groteske Artus-Satire »Die Ritter der Kokosnuss« ein recht wirklichkeitsgetreues Bild mittelalterlichen Alltags zeichnete, fällt die populäre Inszenierung à la Sat.1 zurück in die aseptischen 50er-Jahre.

Die Ivanhoes, Lancelots und Robin Hoods der Technicolor-Ära waren glattgebügelt wie Kinderbuchhelden, mit faltenfreiem Wams und besten Manieren. Realität war da schlicht irrelevant; es ging um die Flucht des Zuschauers in ferne Welten. Und um die geht es längst wieder. Retortenhistorie wie bei Sat.1 und anderen nutzt die Zeit vom Untergang Roms bis zur Entdeckung Amerikas bestenfalls zur Markierung publikumstauglicher Kampflinien von Gut bis Böse und siehe da: wer fies ist, darf auch verlottern, nicht nur sittlich. Alle anderen aber sind sauber wie der junge Tag. So wird Authentizität zum bloßen Kostümzwang degradiert, womit unser Umgang mit dem Mittelalter ganz gut umschrieben wäre.

Denn was auf die philosophisch umwälzende Antike folgte, war keine Epoche, schon gar keine zusammenhängende, wie die »FAZ.« kürzlich zum Mittelalterboom schrieb, sondern ein Erzählmodus. Besser: ein Gefühl. Es wurde zur Chiffre für jenes dunkle Loch, aus dem sich Europa in die Aufklärung gezogen hat. Mehr ein Stil als soziokulturelle Kategorie und zwar eine zugkräfige. Darum wird mancher deutsche Altstadtkern als mittelalterlich vermarktet, obwohl er doch der (architektonische viel ansehnlicheren) Renaissance entstammt. Darum sprießen die Mittelaltermärkte, ziehen Staufer-Ausstellungen Hunderttausende Besucher an und zeitgemäße Romane Millionen Käufer.

Wie die von Ingrid Klocke und Elmar Wolrath. Unter Pseudonymen wie Iny Lorentz hat das Schriftstellerpaar an die zwei Dutzend Mittelalterromane verfasst, darunter auch die Wanderhuren-Tetralogie. Es sind meist Liebesgeschichten in historischem Ambiente mit Happyend – anders als die Autoren der ersten Generation von Umberto Eco bis Noah Gordon, versuchen die zwei Bayern keine »halbwissenschaftlichen Sightseeingtouren durchs Mittelalter« zu unternehmen, wie Elmar Wolrath einräumt. »Unsere Leser wollen ein bisschen was lernen», erklärt der Mittsechziger sein Erfolgsgeheimnis, »vor allem aber wollen sie sich entspannen«. Der Informationsanteil liege bei zehn Prozent, die restlichen 90 seien pures Entertainment. Prinzip: alte Kulisse, neue Sprache.

Denn solange das Mittelalter bloß Forschungsgegenstand war, sollte er uns vor allem helfen, die Gegenwart besser zu erklären. Selbst als Objekt nationaler Erweckung bis in den Nationalsozialismus hinein suchte man den Keim des Kollektivs in den Mythen von Rittern und Reichsverwesern, statt ihm die Gegenwart überzustülpen. Die Unterhaltungsindustrie von heute dagegen hat den Prozess umgedreht: Jetzt erzählen wir uns im Mittelalter die Gegenwart.

Versuchte der Historienroman eines Walter Scott vor 200 Jahren Vergangenes mit den Mitteln damaliger Wirklichkeit lebendig zu machen, so will die Literatur und ihre Verfilmung heute nur noch eins: leicht verständlichen Spaß. Deshalb darf Marie ihrem Lover Michel in der Sprache des neuen Jahrtausends versichern, sie sei »verrückt nach dir«. Deshalb können zwei Versicherungsangestellte ihre Hobbyschreiberei zum Beruf machen und mit fernsehgerechtem Viertelwissen in sieben Jahren sieben Millionen Bücher verkaufen. Deshalb stecken in der Verfilmung von Ken Folletts »Säulen der Erde« 40 Millionen Euro, um das Mittelalter bald bei Sat.1 zu dem zu machen, was das Publikum verlangt: ein gigantisches Kostümfest.

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