In das Innere der Angst
Oper in Weimar
In der Oper geraten die Protagonisten früher oder später in emotionale Grenzsituationen. In Christian Josts kleiner, aber intensiv wuchtiger Choroper ist man gleich mittendrin. Er hat nämlich ein Beispiel für den sportlichen und moralischen Super-GAU einer Bergsteigerseilschaft als Ausgangspunkt für seine emotional aufpeitschende Komposition genommen.
Ein Bergsteiger hängt am Seil des anderen. Beide rutschen in die Tiefe. Der, der unten hängt, hat Todesangst und der, der oben hält, steht vor dem Dilemma, entweder mit seinem Partner in den Tod zu stürzen oder das Seil zu kappen und sich zu retten, aber mit der Schuld am Tod des anderen zu leben. In dem konkreten Fall, der 1985 in den peruanischen Anden passierte, und den Jost für seine 2006 in den Berliner Sophiensälen uraufgeführte Oper aufgegriffen hat, kamen die Bergsteiger mit dem Leben davon.
Karsten Wiegands Inszenierung im Weimarer e-werk führt anschaulich in diese Ausgangssituation ein. Die Choristen stecken in weißen Überzügen und wenn die Zuschauer mitten unter ihnen ihre Plätze gefunden haben, sehen sie auf der gegenüberliegenden, weiß verhängten Tribünen-Front zunächst den Absturz. Doch dieses äußere Katastrophenbild ist nur der Auftakt für eine packende, reflektierende Reise ins Innere der Angst überhaupt.
Die fünf ineinander übergehenden Bilder, die mit einem Ortswechsel der Choristen auf die gegenüberliegende »Steilwand« aus Zuschauersitzen und auf die Spielfläche in der Mitte verbunden sind, nennt Jost die »fünf Pforten einer Reise in das Innere der Angst«. Im Exkurs geht es um das Geburtstrauma, klaustrophobische Kindheitserinnerungen bis hin zu naturwissenschaftlichen und psychologischen Erklärungsversuchen.
Dass Jost die Angst in ein weitgespanntes, eindringliches Spektrum von Musik zu übersetzten versteht, machen die klein besetzte Staatskapelle unter dem neuen Weimarer GMD Stefan Solyom und der grandiose Opernchor – als Ganzes und mit einzelnen Soli – in der kleinen Spielstätte des Deutschen Nationaltheaters überzeugend klar.
Nächste Vorstellungen: 15., 30.10.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.