Mit der Kerze im Sturm

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für David Grossman

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Stellen Sie sich einen jungen Mann vor, mit all seinen Hoffnungen, seinem Feuer, seiner Lebensfreude, mit der Arglosigkeit, dem Humor, den Wünschen eines jungen Mannes. So war er.«

An diesem Sonntagmorgen musste David Grossman auch von Uri sprechen, dem Sohn, der am 12. August 2006 getötet wurde – von einer Rakete der Hisbollah, während er in einem israelischen Panzer saß. Niemand in der Frankfurter Paulskirche, der nicht davon wusste. Die Nachricht war um die Welt gegangen – wie fürchterlich ein Mann des Friedens plötzlich vom Krieg getroffen worden war, so dass es ihn hätte herumreißen können zu einem Aufschrei des Zorns. Vielleicht gab es ja einen solchen Moment; was können wir wissen von jener Trauerwoche, nach der sich David Grossman wieder an seinen Schreibtisch setzte, um, wie er sagte, »aus dem Exil« zurückzufinden. Arbeitete weiter an seinem Roman »Eine Frau flieht vor einer Nachricht«. Der handelt von einer Mutter, deren Sohn beim Militär ist, und die versucht, ihn zu schützen – indem sie von ihm erzählt.

Macht und Ohnmacht der Worte. Wir wissen nicht, was wir bewirken können und ob überhaupt. Und dürfen uns doch nicht beirren lassen zu tun, was wir für richtig halten. Obwohl jeder in der Paulskirche davon wusste, hat David Grossman von Uri sprechen müssen. Weil diese Gedanken nun so zu ihm gehören, dass er ohne sie kein ganzer Mensch mehr wäre.

Und er ist auch in der Öffentlichkeit ein ganzer Mensch (was man fürwahr nicht von jedem sagen kann). Dieses ruhige, offene Gesicht, das jede Regung widerspiegelt – während der Pressekonferenz am Freitag konnte man sehen, mit welcher Aufmerksamkeit und Neugier er auf den Einzelnen schaut, während er doch zu Vielen spricht. Es wird wohl in seinem Wesen liegen, zugleich ist es ein Lebensbemühen, so ungeschützt wie möglich zu bleiben. Der subtilste – und mächtigste – Widerstand gegen alles Gewaltsame, Kriegerische, Diktatorische: sich nicht vereinnahmen zu lassen von einer Situation, in der alles darauf angelegt ist, das Gesicht des Einzelnen auszulöschen. Statt dessen: »das komplexe feine Geflecht menschlicher Beziehungen, Sensibilität, Zartheit und Mitgefühl zu bewahren.«

Darum geht es ja auch in dem Roman, der in der Urkunde zum Friedenspreis als Grossmans Hauptwerk genannt wird. Der Versuch, mitten im Krieg an all dem festzuhalten, sagte Grossman, sei, als gehe man »mit einer Kerze in der Hand durch einen gewaltigen Sturm«.

Macht man sich dieses Sprachbild zu eigen, spürt man, welche Kraft es hat. »Denn Worte können Zeichen des Todes wie Zeichen des Lebens sein«, wie der Vorsteher des Börsenvereins, Gottfried Honnefelder, in seiner Rede sagte. Dass der Friedenspreis, der seit 1950 alljährlich während der Frankfurter Buchmesse vergeben wird, von Anfang an eine politische Bekundung war, »Symbol des Ausgleichs und der Versöhnung«, hatte er während der Pressekonferenz betont. Tatsächlich hat der Börsenverein mit dem Votum für David Grossman ein Zeichen gesetzt für den Wunsch nach Frieden im Nahen Osten.

Der Krieg: die Schuld, von der wir uns gern abkehren. Aber das, was in Israel geschieht, hat auch mit deutscher Schuld zu tun. So hat es David Grossman nicht gesagt, doch er sprach in der Paulskirche von der »Wunde der Schoah«. »Was uns am Frieden hindert, ist auch in unserer historischen Tragödie verwurzelt«. Das heißt, dass man sich als Jude immer am Abgrund fühle. »Wer die meiste Zeit seiner Geschichte entwurzelt und auf stetiger Wanderschaft lebte, wer immer wieder verfolgt und vertrieben wurde, der schwebt zwischen Existenz und Auslöschung.« Der wünsche sich, in seinem Land sicher zu sein. »Beide Seiten, Israel und die Palästinenser, haben ein Recht, als einzelne und als selbstständige Völker in ihrem souveränen Staat in Würde zu leben und von den Wunden zu genesen, die hundert Jahre Krieg ihnen geschlagen haben.«

Wobei eben viele Israelis und Palästinenser kaum mehr an die Möglichkeit eines solchen Lebens glauben könnten. Es scheine ihnen schon, »dass es so etwas wie ein Fatum gibt, welches sie dazu verurteilt, in endlosen Zyklen von Gewalt und Mord zu leben«. Als Schriftsteller durchleuchtet David Grossman die seelischen Folgen. »Es ist – und das ist tragisch – Israel nicht gelungen, den jüdischen Menschen von seiner bitteren Grunderfahrung zu heilen: dem Gefühl, heimatlos zu sein.«

Den einen sollte Heimat gegeben werden, den anderen wurde Heimat genommen. Über dieses Dilemma hatte schon der israelische Schriftsteller Amos Oz gesprochen, als er 1992 den Friedenpreis erhielt. In Erinnerung ist sein Plädoyer für eine »Tschechowsche Lösung«, mit der jede Seite irgendwie unzufrieden und traurig ist, »aber alle sind am Leben geblieben« – während bei einer »Shakespeareschen Lösung« die Bühne am Ende voller Leichen liegt. – Tatsächlich wird ja die Zwei-Staaten-Regelung, für die sich Grossman einsetzt, mit dem Gerechtigkeitsempfinden von Israelis und Palästinensern nur dann vereinbar sein, wenn der Eine die Interessen des Anderen in sein Denken mit einbezieht.

Es ist wohl kein Zufall, dass starke Stimmen der israelischen Friedensbewegung aus dem literarischen Bereich kommen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, wird beim Schreiben und Lesen geübt. Wobei auch Schriftsteller nicht gefeit sein mögen, im Alltagsleben damit Schwierigkeiten zu haben. Es wird wohl eine Frage der Mentalität, auf jeden Fall eine des Lernens und des Bemühens sein, Konfrontationen zu überwinden. Den Gegner verstehen, das gilt im Krieg schon fast als Verbrechen. Aber auch in Friedenszeiten gibt es Fronten.

Ausgerechnet Joachim Gauck! Wie soll ein Unversöhnlicher über einen Versöhnlichen die Laudatio halten? Wie? Indem er das Versöhnliche beschwört. »Nichts steht still, es gibt Auswege aus jeder Situation, es gibt heilende Erfahrung. Wir können neu denken und anders handeln lernen. Wir können tatsächlich gewinnen – durch innere Freiheit.« Wobei die Aufgabe, die sich Grossman stellt, wohl noch schwieriger ist als das, was Gauck beschrieb: »Schaffen wir es, der Falle zu entgehen und unser ICH auch in Krisensituationen nicht nur als Repräsentant des WIR zu begreifen? ... Wie viel Kraft kostete es einem Serben während des Kriegs in Jugoslawien, sich nicht von seiner kroatischen Ehefrau scheiden zu lassen?« – Aber der Westen stand damals auf Seiten Kroatiens und ordnete – nach Möglichkeit – alle Gewalt den Serben zu.

Das Ich gegen das Wir zu stellen ist schwer. Aber noch schwerer ist es, die Ich-Grenzen zu überwinden, indem man fremde Erfahrungen und Meinungen akzeptiert. Als Joachim Gauck zum Bundespräsident vorgeschlagen war, sah ich ihn vollkommen mit dem Wir der derzeit herrschenden Meinung konform. Seinen Standpunkt vertreten, das kann er. Aber verstehen, verbinden, versöhnen?

Ständig legen wir Menschen fest, ordnen sie ein...

»Und was manchmal das Schwerste ist«, so Grossman, sei, etwas nicht zu vergessen: »Der mir da gegenübersteht, mein Feind, der mich hasst und mich als Bedrohung seines Lebens sieht, ist auch ein Mensch; mit seiner Familie und seinen Kindern, mit seiner Auffassung von Gerechtigkeit und seinen Hoffnungen, mit seiner Verzweiflung und seinen Ängsten, mit seinem blinden Fleck.«

Da klingt, wieder einmal, aus der Ferne der Jahrhunderte die Bergpredigt zu uns herüber. Nicht »Auge für Auge«, sondern »Betet für die, die euch verfolgen«? Paradiesisch (oder kommunistisch?) wäre eine Gesellschaft zu nennen, die ohne Vergeltung, ohne Gewalt und Konfrontation von Interessen auskommen würde. In der es genügend Ressourcen gäbe, die Bedürfnisse eines jeden zu erfüllen. Und genügend Weisheit, das Ego mit der Allgemeinheit immer wieder in Einklang zu bringen.

Ideal, Utopie. Aber zugleich ist es ein Weg, den jeder schon heute gehen kann, wenn er es will und kann. Mit der Kerze im Gegenwind, der dort, wo David Grossman lebt, besonders heftig ist.

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