Deutsch: auch in der Kunst nur Regeln! /I.
Wagners »Meistersinger von Nürnberg« am Opernhaus Leipzig / Irene Constantin: Immer witziger und immer stimmiger!
Herzinfarkt, Rettungssanitäter und nur ein Einziger, der dem geschlagenen Mann die Hand hält. »Heil Sachs!«, so schallen ihm die guten Wünsche der Festgesellschaft hinterher, als er auf der Trage liegt und Beckmesser ihn hinausgeleitet. Die »50 Jahre Leipziger Oper« feiernden Damen und Herren werden sich gleich darauf am Nürnberg-Modell aus Marzipan und Biskuit gütlich tun.
Immerhin kein Todesfall, denn es handelt sich ja um eine Komödie. Sie kommt etwas mühsam in Gang. Axel Kober am Pult des Gewandhausorchesters konnte sich in der Ouvertüre nicht recht entscheiden, ob er den majestätisch breitlaufenden, auch mal neckisch aufgeputzten Festtagsschmaus servieren sollte oder leichtflüssig heiter singende Kammermusik für großes Orchester, wie sie Patrick Lange kürzlich so überzeugend an Berlins Komischer Oper dirigierte. Kober wählte den Kompromiss. Nach schleppendem Beginn spielte sich das Orchester allerdings über den langen Abend immer witziger und stimmiger an die Szene heran.
Regisseur Jochen Biganzoli gönnt sich ebenfalls ordentliche Anläufe für letztlich überwältigende Theatercoups. Sein Nürnberg ist ein ganz die Kunst lebendes deutsches Utopie-Gemeinwesen – das anfangs mit heilig provinziellem Ernst die Ankunft eines spielzeugschönen Stadtmodells feiert. Die Städtische Singakademie intoniert unter der Leitung von Herrn Beckmesser einen Choral. Nach dem Festakt allerdings werden die mannigfachen Vorschriftstafeln wieder ausgeklappt – ein ästhetischer Sütterlin-Genuss zweifelhaften Inhalts an den Wänden von Helmut Brades mattgrünem Einheitsraum: »Über allen Gipfeln ist Ruh!«, »Deutschland den Deutschen«, »Durchgang verboten«.
Auch in der Kunst nichts als Regeln, und plötzlich steht da ein Mann, der keine einzige Note kennt und trotzdem singt. Chaos in den Meistergehirnen, Gliederzucken, Lichtzerhacker. Am nächsten Tag haben alle frei vom Regelwerk: Johannistag. Ab morgens Fasching, Saufen, Prügeln. Zuerst trifft es den singenden Ritter Stolzing, spät in der Nacht dann den ungeschickten Liebeswerber Beckmesser. Biganzoli schafft auch hier in der »Prügelfuge« den urplötzlichen Stimmungsumschwung. Eben noch heiteres Bettzeugschwenken, dann breitbeinige Aufstellung in Reih und Glied, schwarze Mäntel, Fackeln. Der blessierte Beckmesser wird wie ein Fremdkörper aus der Formation abgesondert.
Im dritten Akt nimmt nach erotischer Regieflaute die Dreiecksgeschichte Fahrt auf. Bislang sah man Sänger, ausgenommen den wunderbaren Dietrich Henschel als mit eleganter Eloquenz auftrumpfenden Merker und verzweifelten, seiner Niederlage schon sicheren Liebeswerber Beckmesser; jetzt sieht man Menschen. Wolfgang Brendels etwas routinierter Sachs wird zum todesverzweifelten späten Liebenden dem sein Verstand den Verzicht abringt; der stimm-strotzende Tenor Stefan Vinke wird morgens im Pyjama ein Mann, der zwar nicht viel, aber zwei Dinge versteht. Er will Eva, und er muss sein unbegreifliches Liedermacher-Talent nutzen, sie zu bekommen.
Beckmesser erlebt indes Wunderliches. Zu einer zerrissenen, schrill pfeifenden und sausenden Musik – Chaos-Schub auch bei Wagner – fantasiert er sich Eva als liebevolle weiße Taube und tanzt sich als Großer Diktator über die Welt, bis ihm Sachs ein Taschentuch reicht, um sich einen Tintenklecks von der Oberlippe zu wischen. Auch Hans Sachs schickt Biganzoli einen Traum, der es in sich hat. Ahnungsvoll sieht er, wo seine »Meistersinger« hingeraten werden: unter harte Burschenschafter, die schon die Hakenkreuzfahne parat haben, unter sportliche FDJler und quietschbunte Teenies. Erst als ihm Leipzigs gute Gesellschaft ihr »Wach auf!« zusingt, kann der Sängerwettstreit seinen Lauf nehmen ...
Jubel für Dietrich Henschel. Herzlicher Beifall für alle anderen, natürlich ein paar Buhs für den vom Psychologischen ins Gesellschaftliche hinausgreifenden Zugriff des Inszenierungsteams.
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