Am Kern vorbei: Kalkuliertes Déjà Vu

Deutschland ist ein reiches Land, doch die Verhältnisse sind aus den Fugen geraten

  • Annelie Buntenbach
  • Lesedauer: 9 Min.
Annelie Buntenbach – von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen – ist seit 2006 Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes. Die 55-Jährige ist zudem Vorsitzende des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland und Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne.
Annelie Buntenbach – von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen – ist seit 2006 Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes. Die 55-Jährige ist zudem Vorsitzende des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland und Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne.

Von außen betrachtet, eigentlich erstaunlich: Die Hartz-IV-Regelsätze werden erhöht, doch die Empörung ist groß. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass sich kurz vor der Entscheidung des Koalitionsausschusses das Gerücht verbreitete, die Sätze würden um 20 Euro angehoben, dann zehn die Runde machten und schließlich ganze fünf Euro herausgekommen sind. Doch um es vorweg zu sagen: Es soll an dieser Stelle nicht um die Frage gehen, wie es zu diesen fünf Euro gekommen ist. Allein die Tatsache, dass die Entscheidung nicht vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales, sondern bei einem Spitzentreffen der Koalition im Kanzleramt gefallen ist, legt die Vermutung nahe, dass sachfremde Beweggründe die Anpassung der Regelsätze beeinflusst haben. Unabhängig von Berechnungspannen und der Frage, wo und wie bei der Neu-Festsetzung der Regelsatzhöhe getrickst wurde, drängt sich auch der Eindruck auf, dass die – berechtigte und ohnehin zu erwartende – Empörung ganz bewusst noch gesteigert worden ist, um die Debatte erst so richtig zu entfachen und in eine andere Richtung zu drehen.

Ein Blick zurück. Im Februar, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die Berechnungsgrundlagen intransparent und vor allem für Kinder nicht ausreichend sind, wurde eine Kampagne über die »Deppen der Nation« losgetreten. Gemeint waren nicht in erster Linie Langzeitarbeitslose, sondern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Guido Westerwelle inszenierte sich zum Frontmann der »Anständigen« und schwadronierte scheinbar besinnungslos über »anstrengungslosen Wohlstand« und »spätrömische Dekadenz« von Hartz-IV-Beziehern. Das Ergebnis: Die Republik diskutierte weniger darüber, wie Hartz IV den Menschen am besten erspart bleibt bzw. Armut vermieden werden kann, sondern über den FDP-Chef, der erklärte, es würde sich kaum noch lohnen zu arbeiten, weil Hartz IV angeblich mehr abwirft. Auch wenn die Fakten das Gegenteil belegen, so entwickelte sich eine Art Sarrazin-Debatte, die ähnlich polarisiert, weil Beschäftige mit niedrigem Einkommen gegen Arbeitslose aufgehetzt werden.

Gegen Arbeitslose und Arbeitende

Doch nicht nur das: Die Kampagne 1.0 von Westerwelle war größer angelegt. Er suchte die Unterstützung der breiten Masse, nämlich der Steuerzahler – was auch damit zu tun hatte, dass er seine kruden Steuersenkungspläne längst begraben musste. Schwerer wiegt: Westerwelle knüpfte an die »Unterschicht-Debatte« an, diffamierte Arbeitslose und stellte sie nicht nur, wie einst Altkanzler Schröder, als faul dar, sondern als wertlose Schmarotzer. Hinter dieser würdelosen Kampagne verbirgt sich nicht allein der Versuch, öffentliche Mittel für Langzeitarbeitslose klein zu halten, sondern auch Löhne zu drücken. Das ist des Pudels Kern: Es geht um die Frage, was gesellschaftlich als angemessenes menschenwürdiges Existenzminimum angesehen und wie Armut vermieden wird. Und dies gilt für Arbeitnehmer wie für Arbeitslose.

Leider wird diese Debatte nicht geführt oder von anderen Fragen, wie der, ob die Hartz-IV-Leistungen einen »Anreiz« bieten, sich um einen Arbeitsplatz zu bemühen, überlagert. Solche Fragen führen jedoch in die Irre und sollen ablenken, denn die Fakten belegen, dass jeder sechste Hartz-IV-Bezieher erwerbstätig ist, aber davon nicht leben kann. Gegenüber 2005 ist die Zahl der arbeitenden Hartz-IV-Bezieher sogar um 45 Prozent gestiegen. Folgte man aber der Logik eines solch absurden Gedankens, müssten wir Vollbeschäftigung haben, wenn die Hartz-IV-Sätze auf Null gesetzt würden. Es ist offensichtlich, dass der Niedriglohnsektor ausgebaut und das Lohnniveau insgesamt gedrückt werden sollen. Unter Fachleuten heißt dies »Lohnabstandsgebot«: Getarnt durch die Formel »Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet« geht es Westerwelle oder CSU-Chef Seehofer nicht um die viel zitierten »Arbeitsanreize«. Ziel ist, Niedriglöhne zu legitimieren – das Mittel dafür, die Grundsicherung in engen Grenzen zu halten. Steigt der Hartz-IV-Satz aber deutlich, werden die Abgrenzungen zwischen Grundsicherung und Billigjobs noch unklarer, als sie es heute schon sind.

Die Diskussion würde sich aber in die richtige Richtung drehen und der berechtigten Forderung nach Existenz sichernden Mindestlöhnen neuen Rückenwind geben. Dies wollen Westerwelle und Co. natürlich verhindern, denn sie betreiben nicht nur einfache Klientel-, sondern handfeste Umverteilungspolitik von Unten nach Oben. Dabei wird sogar in Kauf genommen, dass die – von Westerwelle angeblich so geschätzten – Steuerzahler, Billiglöhne der Arbeitgeber subventionieren und teuer bezahlen müssen. Im Fachjargon nennt man die 1,3 Millionen Beschäftigen, die zusätzlich Hartz IV beziehen müssen, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht, »Aufstocker«. Letztlich ist dies allerdings nichts anderes als staatlich gefördertes Lohndumping. Union und FDP blenden dieses Problem lieber aus und verweisen auf eine Kassiererin oder Friseurin, die schließlich mehr haben müsste als ein »Hartzer«. Richtig, doch der Lohn einer Kassiererin leitet sich vom Hartz-IV-Satz ab – das Grundproblem ist, dass sie von ihrem Arbeitgeber nicht das bekommt, was sie tatsächlich verdient. Dumpinglöhne sind das Problem und nicht der Regelsatz.

22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland müssen zu Niedriglöhnen arbeiten. 2,2 Millionen Menschen arbeiten für weniger als sechs Euro pro Stunde, 1,2 Millionen sogar für weniger als vier (!) Euro Stundenlohn. Und jetzt kommt der springende Punkt: Fragt eigentlich jemand aus Union oder gar FDP, ob diese Dumpinglöhne, selbst wenn sie knapp über der Grundsicherungsschwelle liegen, zum Leben reichen? Fragt sich jemand in der Bundesregierung, wie es sein kann, dass die Löhne für reguläre Arbeit niedriger sein können als die Grundsicherungsleistungen? Wie ist es mit der Würde dieser Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von ihrem Lohn nicht leben können und deshalb beim Amt die Hosen herunter lassen müssen? Und fragt jemand der Regierenden nach den Folgen für eine Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet? Die Tatsache, dass die Mittelschicht seit Jahren schmilzt, hat auch mit Hartz IV zu tun – allerdings weniger mit der Höhe der Regelsätze, als damit, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn sie arbeitslos werden, so schnell in das Bedürftigkeitssystem Hartz IV gedrängt werden. Dieser Druck macht sich längst in den Betrieben bemerkbar und wirkt sich auf das gesamte Lohngefüge aus. Doch nicht nur das: Scharfe Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose oder Leiharbeit verstärken diesen Druck. Alles politisch gewollt und politisch gemacht. Im Übrigen nicht von Rot-Grün allein, sondern im wesentlichen von der CDU/CSU verschärft. Mit der Drohung, die Tarifautonomie zu schleifen, hatten Roland Koch und Co. die Hartz-Reformen damals im Vermittlungsausschuss erst zu dem gemacht, was sie heute sind. Es hat also niemand der damals Beteiligten das Recht, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Doch zurück in die Gegenwart: Die entscheidende Frage ist, was Menschen in Deutschland für ein Leben in Würde brauchen. Nicht nur Hartz-IV-Bezieher, sondern genauso Beschäftigte und Rentnerinnen und Rentner. Und damit sind wir wieder bei der Fünf-Euro-Debatte. Die Koalition befragt die ärmsten 20 Prozent der Gesellschaft danach, wofür sie ihr Geld ausgeben, und stellt dies dann als statistischen Grundbedarf dar. Dabei weicht Schwarz-Gelb bei der so genannten Referenzgruppe sogar noch nach unten ab, nimmt nur die ärmsten 15 Prozent als Maßstab nimmt und bezieht die »Aufstocker«, also Hartz-IV-Bezieher selbst, noch mit ein. Es kommt auf den Maßstab an: Kann es der Maßstab sein, wie sich Arme ihr Geld einteilen? Um dann zum Beispiel Geld für Alkohol und Zigaretten zu streichen, weil ein Glas Wein oder drei Zigaretten pro Tag nicht zum Grundbedarf gehören? Ganz abgesehen davon, dass Nichtrauchern, die Hartz IV beziehen, dieses Geld auch gestrichen werden soll, muss doch viel mehr gefragt werden, ob das wenige Geld, das nicht nur Hartz-IV-Bezieher, sondern auch Geringverdienende zur Verfügung haben, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht. Dass diese Frage ausgeblendet wird, ist der Kardinalfehler an der ganzen Debatte.

Deshalb ist die Ankündigung der Opposition richtig und notwendig, dass die Frage der Regelsätze – spätestens über den Bundesrat – mit Mindestlöhnen gemeinsam diskutiert werden soll. Gerade diejenigen wie Westerwelle und Co, die immer wieder betonen, dass es lohnen müsse zu arbeiten, müssen endlich mit dafür sorgen, dass dies auch durch Mindestlöhne von nicht unter 8,50 Euro die Stunde abgesichert wird. Die Erfahrungen zum Beispiel aus Großbritannien widerlegen die Behauptung, dass Arbeitsplätze durch Mindestlöhne verloren gehen würden. Es ist allerdings auch notwendig, dass sich die Parteien – zusätzlich zu den Mindestlöhnen – ernsthaft mit den Folgen der Arbeitsmarktreformen, also der Leiharbeit, dem Lohndruck und der sozialen Unsicherheit durch Hartz IV auseinandersetzen. Ziel muss sein, dass ein Arbeitsplatz wieder Sicherheit, anständige Entlohnung und Perspektive bietet, statt dass sich Millionen Menschen zwischen Ein-Euro-Job, Mini-Job, Leiharbeit und Hartz IV hin und her hangeln müssen.

Zeit, die Verhältnisse gerade zu rücken

Notwendig ist – neben Existenz sichernden Löhnen und gleichem Lohn für gleiche Arbeit – vor allem ein Ausbau der sozialen Sicherung. Jeder Arbeitsplatz sollte sozialversicherungspflichtig abgesichert sein und die solidarischen Sicherungssysteme müssen sozial gerecht ausgebaut werden. Denn es macht einen entscheidenden Unterschied, ob Menschen, wenn sie keine Chance haben, wieder einen Arbeitsplatz zu finden, in staatliche Grundsicherungssysteme und damit in die Armutsfalle geraten – oder aber durch solidarische Beiträge vorm Absturz geschützt sind und nicht um ihre Lebensleistung gebracht werden. Die Perspektive der Veränderung darf nicht allein bei der Frage stehen bleiben, wie die Grundsicherungssysteme ausgestaltet werden. Es geht um beides: Arbeit, die aus der Armut führt oder diese vermeidet, und starke Sozialversicherungen, die den Absturz in Armut verhindern.

Dies alles ist nicht nur nötig, sondern auch möglich. Denn Deutschland ist ein reiches Land – das Problem ist nur, dass die Verhältnisse aus den Fugen geraten sind: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Außenhandelsüberschüsse und Lohndumping in Deutschland setzen sogar unsere europäischen Nachbarländer unter Druck, während die Reallöhne stagnieren und die Binnenkonjunktur noch immer nicht auf die Beine kommt. Die unsoziale Schieflage ist also nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern auch ein mit entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Europa. Es wird also höchste Zeit, die Verhältnisse gerade zu rücken. Dies werden der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften zum Thema der Herbstaktionen machen. Es ist und bleibt unverantwortlich, dass Schwarz-Gelb nichts gegen die Verarmungstendenzen durch Hartz IV, Leiharbeit oder Lohndumping unternimmt und die unsoziale Schieflage durch Sparpaket, Kopfpauschale und Rente mit 67 auch noch verschärfen will. Dass die Koalition dabei stur an den unsinnigen Steuergeschenken für Hoteliers festhält, den Ärmsten der Armen aber ein menschenwürdiges Existenzminimum verweigern will, ist ein handfester Skandal.

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