Arbeiter übernehmen die Fabriken

Die Beschäftigten der Glasfabrik »Cristales San Justo« in Argentinien zahlen sich alle den gleichen Lohn

  • Jürgen Vogt
  • Lesedauer: 4 Min.
Cooperativa de Trabajo. 50 Beschäftigte hat die Glasfabrik in San Justo im Osten Argentiniens.
Cooperativa de Trabajo. 50 Beschäftigte hat die Glasfabrik in San Justo im Osten Argentiniens.

In der »Cristales San Justo – Cooperativa de Trabajo« spritzen wieder die Funken. Die Schmelzöfen heizen auf Hochtouren, die Maschinen lärmen. In der Glasfabrik in San Justo in der Provinz Buenos Aires werden Abdeckungen für Autoscheinwerfer gegossen.

»In der Morgenschicht sind wir zu 100 Prozent ausgelastet«, ruft Cristian Ruiz. »Am Nachmittag immerhin zu 70 Prozent.« 20 Tonnen Glas sind dennoch immer flüssig. In San Justo werden seit über 50 Jahren Gläser für Autoscheinwerfer hergestellt. Die Logos von Ford, VW, Renault und FIAT prangen auf dem Verkaufsprospekt.

Noch im vergangenen Jahr stand für vier Monate alles still. Der Absatz war mit der Krise in der Autoindustrie vom November 2008 eingebrochen. Im Juni hatte sich der Markt wieder etwas erholt und so haben sie die Öfen wieder angeworfen. »Jetzt arbeiten wir mit einer Konkurrenzfirma in Argentinien zusammen und haben einen großen Kunden in Brasilien«, sagt Ruiz, der für den Verkaufsbereich verantwortlich ist. »Das macht immerhin 50 Prozent unseres Umsatzes aus.«

Cristales San Justo ist eine von rund 150 Fabricas Recuperadas (wieder angeeignete Fabriken) in ganz Argentinien, die sich von 2002 bis 2008 als Kooperativen gebildet haben. Fabrica Recuperada bedeutet, die Belegschaft und nicht die Unternehmer müssen die Fabrik wieder flott machen und dabei eine horizontale Organisationsstruktur bilden. Eine Kooperative bilden, in der alle das Gleiche verdienen. Heute sind darunter Metallfabriken, Motorenwerke, Großbäckereien, ein Krankenhaus, eine Zeitung. Ihre Geschichten ähneln sich. Während der schweren Wirtschaftskrise 2001/2002 waren die Eigentümer einfach verschwunden. Die Belegschaften standen am anderen Morgen vor verschlossenen Toren.

Auch Cristales San Justo wurde über Nacht geschlossen, der Eigentümer tauchte nicht wieder auf. »Am 16. September 2002 sind wir in die Fabrik gegangen. Vorher waren wir in einem Zelt vor der Fabrik und machten all den Papierkram um die Kooperative zu gründen.« Eine Besetzung? »Der Konkursverwalter ist gekommen und hat uns die Tore aufgemacht. Vom Richter hatten wir die Erlaubnis«, erzählt Produktionsleiter Ignacio Gallo. Mit 40 Mitarbeitern hatten sie angefangen. Heute zählt die Belegschaft 50 Männer und Frauen und alle verdienen knapp über 800 Euro im Monat.

Die Armutsgrenze in Argentinien liegt für eine vierköpfige Durchschnittsfamilie bei 220 Euro im Monat. Rund ein Viertel der 40 Millionen Argentinier lebt auch fast zehn Jahre nach der Krise noch unterhalb der Armutsgrenze. Die Sozialhilfe liegt etwa bei 60 Euro, der gesetzliche Mindestlohn beträgt rund 330 Euro im Monat. Da sind 800 Euro ein guter Verdienst in einer Fabrica Recuperada.

Gemeinsam mit den Belegschaften der anderen Fabriken haben sie mittlerweile erfolgreich eine Reform des Konkursrechts durchgesetzt. 2008 wurde eine nationale Rahmengesetzgebung beschlossen, die für alle Fabricas Recuperada gilt, die heute als Kooperativen arbeiten. Jetzt können die Provinzen die Fabriken aufkaufen. Die einzelnen Kooperativen haben dann 20 Jahre Zeit, die Provinz auszuzahlen und das Eigentum an den Betrieben zu erwerben.

Eigentümerin der in Konkurs gegangenen Glasfabrik in San Justo ist jetzt die Provinz Buenos Aires. Sie hat der Kooperative die Fabrik auf Leihbasis überlassen. So funktioniert es vielerorts, denn einfache Enteignungen der Alteigentümer sind auch in Argentinien politisch nicht durchsetzbar.

»Wir beanspruchen aus der Konkursmasse noch immer die vom vorherigen Eigentümer nicht ausgezahlten Löhne und Zulagen«, sagt Cristian Ruiz. Da stehen noch immer rund 150 000 US-Dollar aus. Die Belegschaft hat als Gläubiger Vorrang. »Wenn wir die 150 000 als ein Teil der Kaufsumme in die Waagschale werfen, dann können wir den anderen Teil auch stemmen«, ist Ruiz optimistisch, dass die Kooperative in naher Zukunft den Betrieb kaufen wird.

Bisher haben sie noch alle Krisen gemeistert. Die größte Herausforderung sieht Ruiz zukünftig in der Änderung der Produktpalette. »Neue Autos mit Scheinwerferabdeckungen aus Glas werden seit 2000 kaum noch produziert.« Den Löwenanteil macht schon lange die Ersatzteilproduktion aus.

In San Justo haben die Mitarbeiter angefangen völlig neue Muster anzufertigen. Hochwertige Geschenkartikel aus Glas, Abdeckungen und Aufsätze für Kronleuchter und Lampen sollen die klassischen Produkte nach und nach ergänzen. Das wird nicht einfach, weiß Ruiz. Viele in der Belegschaft hängen an ihrer traditionellen Produktpalette, einige arbeiten seit über 15 Jahren im Betrieb. Bei einem einzigen Eigentümer wäre eine derartige Innovation niemals von heute auf morgen umzusetzen. »Aber wir sind 50 Eigentümer«, lacht er.

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