Verdrehte Leiber, geschwenkte Arme
Staatsoper im Schillertheater: Guy Cassiers inszenierte Richard Wagners »Rheingold«, Daniel Barenboim dirigierte
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im Nibelungenland?« – das war die Kernfrage der Staatsopern-Wagner-Premiere vom Wochenende. Gern kann man sie über die Göttinnen und Rheintöchter in ihren prächtig gearbeiteten Pailletten-Chiffon-Brokat-Roben auch auf die edel patinierten Herrenkostüme, die trainierten Körper von neun Tänzerinnen und Tänzern und die raffiniert beleuchtete und pergamonfries-ähnlich reliefierte Bühnenrückwand erweitern. Sehr schön auch die Spritzer- und Plätschereffekte von 9000 Litern Wasser in diversen flachen Becken auf dem Bühnenboden.
Auf keinen Fall sollte die Staatsoper, wenn das »Rheingold« abgespielt ist, diese Herrlichkeit irgendwo einmotten. Man könnte durchaus auch »Aida«, »Rusalka« »Pique Dame« und den »Fliegenden Holländer« in derselben Deko spielen. Vom Rest der »Ring«-Te- tralogie ganz zu schweigen, denn auf den Hintergrund kann man per wabernder Film- und Bildprojektion jede beliebige Wagner-Szenerie zaubern. Die »freie Gegend auf Bergeshöhen« gab zum Beispiel der Grand Canyon ab, nur fehlt ihm die »ragende Burg«.
Vor diesem pretiösen Bühnenhintergrund befanden sich, wie in einer anständigen Oper üblich, die Sänger und ließen ihre edlen Stimmen – besonders edel alle drei Rheintöchter und Fasolt – ungestört in den Zuschauerraum strömen.
Unter diesen Sängern gibt es allerdings Leute mit einem Bühneninstinkt, der selbst aus einer inexistenten Inszenierung noch etwas belangvolles entstehen lässt und die somit den gegenwärtig extrem hohen Rhein-Goldpreis durchaus rechtfertigen. Stephan Rügamer gab einen Loge, der E.T.A. Hoffmanns Novellen entsprungen sein könnte, wie er da hinreichend irrsinnig über die Bühne hüpfte und stelzte und neben Witzigem und Ironischem glänzendste lyrische Passagen sang. Zum zweiten erlebte man Hanno Müller-Brachmann, der mit seinen hektisch wichtigen Schrittpassagen quer über die Bühne den Wotan als einen eben an die Macht geratenen Juniorchef präsentierte, der in jeder Sekunde bei Strafe seiner Entthronung darauf bedacht sein muss, dem Rest der Sippschaft seine Führungsqualitäten zu beweisen. Seine straffe, hell timbrierte, schlanke und dabei energische Stimme passt dazu haargenau.
Die wahre Sensation aber war Johannes Martin Kränzle als Alberich. Der kann zu den Rheintöchtern charmant sein, fast heiter und wohlklingend, er schwadroniert in kantablen Linien vor Loge und Wotan in seinem Nibelungen-Untergrund und gibt den King auf einem Thron aus Menschenleibern. Sein Fluch ist so ganz anders als alle bisher gehörten Nibelungenflüche, fast geflüstert, diamanthart, zum Fürchten. Kränzle war brillant.
Mit dem Rest der Besetzung wusste Regisseur Guy Cassiers rein gar nichts anzufangen. Dafür inszenierte er ein bemerkenswertes Ballett um die Götter, Riesen und Zwerge herum. Der Tarnhelm aus Menschenleibern machte Eindruck, auch die Choreografie der unterwürfigen Nibelungen überzeugte. Über die lange Strecke von pausenlosen 185 Minuten ermüdeten die verdrehten Leiber und geschwenkten Arme bei aller Anmut und allem choreografischen Einfallsreichtum trotzdem die Augen.
Mangels einer Erzählung auf der Bühne hatten die Ohren freie Bahn und nach etwas nervösem Beginn lohnte es sehr, dem von Daniel Barenboim entfesselten Orchestersound zu lauschen. Bestrickende Verführungsmelodien im Rhein, schwelgerische Schönheit, wenn das Gold erstrahlt, klingend donnernde Riesenschritte, ein rauschhafter Schwung, wenn Wotan seine Götter nach Walhall führt, zart leuchtende Streicher, hinreißende Holzbläser; Barenboim überzeugte mit einer prachtvollen Klangsinnlichkeit, punktete überzeugend im Schönheitswettbewerb dieser Koproduktion mit der Mailänder Scala.
Nächste Vorstellungen: heute, am 23., 27. und 31. Oktober
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