Mit dem Bürger muss man rechnen

Der Beteiligungshaushalt in Berlin-Lichtenberg ist ein erfolgreiches Pilotprojekt für Mitbestimmung in Großstädten

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Bürger entscheiden über die Vergabe kommunaler Finanzen selbst. Das erstmals 1989 im brasilianischen Porto Alegre praktizierte Modell eines Bürgerhaushalts entwickelte sich zum Exportschlager. In Berlin-Lichtenberg wurden mit den Mitteln beispielsweise tausende originalsprachliche Medien angeschafft.
Bürger entscheiden über die Vergabe kommunaler Finanzen selbst. Das erstmals 1989 im brasilianischen Porto Alegre praktizierte Modell eines Bürgerhaushalts entwickelte sich zum Exportschlager. In Berlin-Lichtenberg wurden mit den Mitteln beispielsweise tausende originalsprachliche Medien angeschafft.

Noch bis Ende nächster Woche können die Lichtenbergerinnen und Lichtenberger über den Bürgerhaushalt 2012 abstimmen. Das Beteiligungsmodell im Berliner Bezirk ist ein Erfolgsprojekt.

»Es ist gut, wenn die Bürger und Bürgerinnen darüber mitentscheiden können, was mit den Geldern passiert«, sagt Christina Heese. Sie ist die Leiterin der Anton-Saefkow-Bibliothek im Berliner Bezirk Lichtenberg. Dort stehen rund 3000 russischsprachige Bücher, CDs und DVDs. Angeschafft wurden sie mit den Mitteln des Bürgerhaushaltes, die Lichtenberger haben sich also selbst dafür entschieden.

»Jedes Medium wird im Schnitt sechs bis sieben Mal im Jahr ausgeliehen«, sagt Heese. Das sei bei einer Leihfrist von vier Wochen plus möglicher Verlängerung sehr viel – und deutlich mehr als bei anderen Beständen der Bibliothek. Deshalb müsse auch ständig Neues bestellt werden, um die Nachfrage der Nutzerinnen und Nutzer, die aus allen Berliner Bezirken in die Lichtenberger Stadtteilbibliothek kommen, zu befriedigen.

Die originalsprachlichen russischen und auch vietnamesischen Medien sind nur ein Beispiel. Die Bürger können zu fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens Vorschläge einbringen. Dazu gehören die Erhaltung und die Pflege von Spielplätzen und Seniorenbegegnungsstätten. Bereits im Jahr 2007 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) nach einem Bürgervorschlag die Bereitstellung von Gebärdensprachdolmetschern bei öffentlichen Versammlungen. Seit diesem Sommer gibt es eine monatliche Sprechstunde für Gehörlose im Bezirksamt. Ein Projekt zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund wurde 2009 beschlossen, in dessen Rahmen ein Nachbarschaftshaus eröffnet und eine Stelle mit Muttersprachkenntnissen geschaffen wurde.

Andere Vorschläge, wie die Aufstellung von Spendern für Hundekotbeutel oder umfassende Gebäudeinstandsetzungen, wurden allerdings abgelehnt. Bei ersterem waren die bisherigen Erfahrungen zu schlecht und die Sanierungsvorhaben hätten den Rahmen des Bürgerhaushaltes gesprengt.

Wie funktioniert der Bürgerhaushalt?

Die Finanzmittel, die den Berliner Bezirken – in Kommunen andernorts verhält es sich ähnlich – jährlich zur Verfügung stehen, bekommen sie vom Senat zugewiesen. Es handelt sich zum einen um feste Posten, wie etwa Personal-, Unterhalts- und Mietkosten für Gebäude, Transferleistungen wie Hartz IV und ähnliches. Der andere Bereich sind die so genannten freiwilligen Ausgaben des Bezirks. Dazu gehören Jugendfreizeiteinrichtungen, Volkshochschulen und Musikschulen sowie kleinere Investitionen. Über diese Ausgaben, in Lichtenberg sind das 32 Millionen Euro, entscheiden die Bürger. Hier steht der Bürgerhaushalt unter dem Motto »Wir rechnen mit Ihnen«.

Auf Stadtteilkonferenzen und per Internet können die Bürger ihre Vorschläge einbringen. Danach und nach Ende der Frist für die Onlinewahl findet ein bezirksweiter Votierungstag statt, auf dem in öffentlichen Versammlungen über die Vorschläge abgestimmt wird. Der letzte Schritt sind die Haushaltsabstimmungen. 25 000 zufällig ausgewählte Haushalte werden angeschrieben, die ihrerseits zu den Vorschlägen ihre Stimme abgeben können. Im November wird die Auswertung vorliegen, über die am besten bewerteten Vorschläge befindet dann das Lichtenberger Parlament, die BVV.

Die Beteiligung am Bürgerhaushalt wächst stetig. Beim ersten Durchlauf 2007 waren 485 Nutzer auf der Internetseite registriert, 1390 Menschen besuchten im Wochendurchschnitt die Homepage. An der Abschlussveranstaltung nahmen 312 Menschen teil. Beim aktuellen Bürgerhaushalt 2012 waren 2961 Nutzer registriert, über 32 455 besuchten im Schnitt wöchentlich die Homepage, und 2315 nahmen am Votierungstag im September teil.

Viel gefragtes Pilotprojekt

Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (LINKE) war und ist viel in Sachen Bürgerhaushalt unterwegs, sprach vor der Kölner Stadtversammlung, war in Spanien und Frankreich. Sie könnte noch mehr Einladungen annehmen, sagt sie, aber dazu reiche die Zeit nicht. Im November fährt sie zu einer internationalen Fachtagung nach Vietnam, vorige Woche war sie in Hamburg, und in Lichtenberg empfängt sie Delegationen aus aller Welt.

In dem Bezirk, der mit seinen zehn Ortsteilen und 258 000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine Großstadt ist, wurde der Bürgerhaushalt erstmals erfolgreich in einer nicht selbstständigen Kommune in dieser Größe probiert. Davor wurden Erfahrungen in kleineren Städten und Gemeinden gesammelt. Im Jahr 2003 verabredete der rot-rote Senat in seiner Koalitionsvereinbarung den Umbau Berlins zur Bürgerkommune. Der Begriff beschreibt eine Reform der Verwaltung hin zu direkter Bürgerbeteiligung. Die Bewohnerinnen und Bewohner wirken über Vereine, Stadtteilzentren, Ortsbeiräte und ähnliche Institutionen direkt an der Entwicklung ihrer Stadt, ihres Stadtteils mit. Aufgabe der Verwaltungen ist es, die Bürgerschaften zu aktivieren, zu unterstützen und die Orte der Partizipation zur Verfügung zu stellen. Der Bürgerhaushalt ist also nur eines von mehreren Instrumenten.

Zunächst war es der Bezirk Mitte, der 2003 nach Vorbereitung der Bundeszentrale für politische Bildung die Versammlung »Berliner Bürgerinnen und Bürger beraten über den Haushalt – Berlin-Mitte als Modell?« abhielt. Mitte entschloss sich dann aber dagegen, den Bürgerhaushalt sofort einzuführen. Nachdem sich auch der Rat der Bürgermeister dafür ausgesprochen hatte, wurden Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf Pilotprojekte für Bürgerhaushalte in Großstädten.

In den ersten zwei Jahren war es eher ein »Top-Down-Prozess«, sagt Emmrich. Es sei darum gegangen, für das neue Projekt zu werben und die Bürger und Bürgerinnen zu interessieren. »Wir werden jetzt aus dem Prozess rausgetragen«, sagte sie in einem ND-Interview Ende 2009. Zunehmend übernahmen damals die Kiezbeiräte, soziokulturellen Zentren und Bürgervereine das Ruder, das Bezirksamt lieferte die Rahmendaten. Dieser Prozess hat sich fortgesetzt. Die Versammlungen zum Bürgerhaushalt 2012 wurden von den Stadtteilzentren eigenständig organisiert. »Völlig raus sind wir aber nicht. Wir müssen ja die Zahlen liefern, und was mit dem Internet zu tun hat, läuft auch noch übers Bezirksamt«, sagt Emmrich heute.

Lichtenberg ist kein Einzelfall

Was mit dem Beteiligungshaushalt von Porto Alegre im Jahr 1989 begann, hat einen Siegeszug im wahrsten Sinne um die ganze Welt angetreten. Auf allen Kontinenten gibt es Bürgerhaushalte, allein in Deutschland sind es mit Stand vom 25. September dieses Jahres 167 Kommunen, die Erfahrungen mit dem Beteiligungsinstrument gemacht haben. Entweder wurde er diskutiert, bereits beschlossen, erstmals oder auch fortgesetzt durchgeführt. Zu letzterer Kategorie zählen neben Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf beispielsweise Bonn, Rheinstetten, Potsdam oder Bad Wildungen. In den meisten Fällen (87) wird der Bürgerhaushalt diskutiert, ist aber noch nicht beschlossene Sache. In 42 Kommunen wird er zum ersten oder zweiten Mal durchgeführt. *

Nicht überall läuft der Bürgerhaushalt so erfolgreich wie in Lichtenberg. Von einem ersten Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen, das von 2000 bis 2004 lief, sind kaum Städte übrig geblieben. Das kann an mangelndem Interesse oder mangelndem politischen Rückhalt liegen – oder auch an einem ganz banalen und ebenso dramatischen Grund: »Wir sind 2004 in den Nothaushalt gerutscht und seitdem nicht wieder herausgekommen. Wir haben keine frei verfügbaren Mittel mehr, über die unsere Bürger entscheiden können«, berichtet Maresa Hilleringmann, Sprecherin der Stadt Castrop-Rauxel, auf ND-Anfrage. Ebenso verhält es sich in Hamm. Im Bürgerreport von 2003 wird über die guten Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt berichtet, aber auch über klamme Kassen: »Hier zeigt sich, wie die defizitäre Haushaltslage einer Kommune den Erfolg des Bürgerhaushaltes erschweren kann.« Grundsätzlich ist unter besseren finanziellen Rahmenbedingungen aber eine erneute Bürgerbeteiligung, gegebenenfalls auf Stadtteilebene, geplant.

* Die Zahlen stammen von der Website www.buergerhaushalt.de, die unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung betrieben wird. Oder siehe:

buergerhaushalt-lichtenberg.de

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