Rumäniens Regierung hat ihren Ruf ruiniert

Doch Gewerkschaftsprotest bleibt wirkungslos

  • Anton Latzo
  • Lesedauer: 3 Min.
Die rumänische Opposition wird am 27. Oktober versuchen, die Regierung unter Premier Emil Boc durch einen Misstrauensantrag zu Fall zu bringen. Die Tageszeitung »Adevarul« schrieb vor Tagen: »Die gegenwärtige Regierung muss stürzen ... Sie hat alle Glaubwürdigkeitsreserven verspielt.«

Das Ansehen der Truppe um Regierungschef Emil Boc sei grottenschlecht, meinte »Adevarul«, Rumäniens führende Tageszeitung. Dafür sprechen auch die Zahlen, die unlängst veröffentlicht wurden: Rumänien ist der EU-Staat mit dem niedrigsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung. Dagegen liegt das Land mit einer Inflationsrate von 7,7 Prozent im September an der EU-Spitze, der Durchschnitt in der Union beläuft sich auf 2,2 Prozent. Die Auslandsverschuldung des Landes ist allein in den ersten acht Monaten 2010 um 9,3 Prozent gewachsen. Sie beträgt jetzt rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Keine Frage, dass der für 2015 in Aussicht genommene Beitritt Rumäniens zur Euro-Zone angesichts dieser Situation gefährdet ist.

Der Mindestlohn liegt bei 600 Lei, umgerechnet 140 Euro. »Adevarul« weist jedoch darauf hin, dass ein Rumäne allein für die Nahrungsmittel, die im offiziellen Warenkorb vorgesehen sind, 750 Lei im Monat benötigt. An die Befriedigung anderer Bedürfnisse kann ein Niedriglohnempfänger also längst nicht mehr denken. Wichtigste Ursache sind die Preiserhöhungen, die durch die Anhebung der Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent bewirkt wurden. Die wiederum war Bedingung für einen 20-Milliarden-Euro-Kredit des Internationalen Währungsfonds und der EU.

Man müsse diese Bedingungen in Kauf nehmen, damit sich die wirtschaftliche Lage und die Lebensbedingungen allmählich verbessern könnten, hatten Präsident Traian Basescu und die Regierung Boc den Rumänen versprochen – und die aus dem Staatshaushalt finanzierten Gehälter im Sommer landesweit um 25 Prozent gekürzt. 10 000 Beschäftigte des Bildungswesens wurden entlassen, in der staatlichen Verwaltung wurden 75 000 Stellen gestrichen.

Kein Wunder, dass die Auswanderung arbeitsfähiger, hoch qualifizierter Rumäninnen und Rumänen dramatische Ausmaße annimmt. Allein in Italien waren zum 1. Januar dieses Jahres fast 900 000 rumänische Bürger registriert. Die Hilfsorganisation Caritas sprach sogar von mehr als 1,1 Million, denn viele seien nicht angemeldet. In Spanien waren 830 000 Bürger Rumäniens gemeldet.

Die Gewerkschaften meldeten im Sommer, als die Bedingungen für die Auszahlung einer weiteren Rate des IWF-Kredits erneut verhandelt und verschärft wurden, ihren Protest an. Mehr noch, sie drohten mit energischen Kämpfen, einschließlich des Generalstreiks. Schon im Frühjahr, als die Regierung ihre »Sparmaßnahmen« angekündigt hatte, organisierten sie eine großen Protestaktion im Zentrum von Bukarest. Doch die blieb folgenlos. Die Gewerkschaftsführer vertrösteten ihre Mitglieder mit dem Versprechen, im Herbst größere und wirksamere Kampfmaßnahmen zu organisieren.

In der Zwischenzeit hat die Regierung längst vollendete Tatsachen geschaffen. Doch die Gegenaktionen der Gewerkschaften sind weit entfernt davon, das Ausmaß von Manifestationen wie in den 90er Jahren anzunehmen. Zwar gab es einige Kundgebungen. Nis zu 10 000 Teilnehmer versammelten sich vor Regierungsgebäuden und gingen unverrichteter Dinge wieder auseinander. Doch fehlte es sowohl an Solidarität unter den einzelnen Gewerkschaften als auch an einer Orientierung auf konkrete Kampfziele. Die Zerschlagung der großen Betriebe und die Privatisierung haben die Mobilisierungs- und Kampffähigkeit der Gewerkschaften beeinträchtigt. Zumal ausländische Unternehmen ihren Beschäftigten oft bessere Löhne zahlen als rumänische Firmen, so dass die arbeitende Klasse gespalten ist und nicht zu gemeinsamen Aktionen findet.

Demobilisierend wirkt auch die Haltung von Gewerkschaftsführern, von denen viele schon lange im Amt sind und ihr Hauptbetätigungsfeld darin sehen, ihre Position zu nutzen, um sich in der Politik »nach oben zu arbeiten« oder sogar Geschäfte auf den Schultern der Gewerkschaftsmitglieder abzuwickeln. Der Vertrauensverlust in der Mitgliedschaft ist daher groß, die kollektive Aktion bleibt auf der Strecke.

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