Wie aus einer anderen Welt

53. Festival DOK Leipzig

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 5 Min.

Geschichte kann Mut zur Veränderung machen« und »Geschichte kann Ihr Weltbild aus den Angeln heben«. Beides zu lesen auf einem Wagen der Leipziger Straßenbahn als Werbung für das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig. Es hätte ebenso gut als Motto über dem 53. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm stehen können. Auch Festivals haben ihre Geschichte, wie das gleich der Eröffnungsfilm »Nostalgia de la luz« von Patricio Guzmán bewusst machte. Der bedeutendste chilenische Dokumentarist hat ihn in der Atacama-Wüste gedreht. Hier steht das größte Teleskop der Welt steht – einst hatte Pinochet ein Vernichtungslager errichten lassen. Angehörige der Ermordeten suchen zwischen Sand und Steinen nach deren Überresten, und Astronomie schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Als Chronist der Unidad Popular war der heute 69-jährige Regisseur mit seiner legendären Trilogie »Die Schlacht um Chile« nach dem Tod Allendes Gast in Leipzig gewesen. Die Dok-Woche war damals auch stets ein Ort von Gegenöffentlichkeit. Neben Chile stand dafür nicht zuletzt Vietnam. Daran fühlte man sich erinnert beim essayistischen Rückblick auf die wechselvolle Geschichte des Landes »L’Empire du milieu du sud« von Jaques Perrin (»Nomaden der Luft«, »Unsere Ozeane«). Er reicht von der französischen Kolonialzeit bis zum Fall Saigons im April 1975 und ist getragen von einem elegischen Unterton, Ausdruck der Liebe eines Europäers zu diesem Land und seiner Trauer um dessen Opfer im langen Kampf um Unabhängigkeit.

Das politische Engagement des Festivals ist auch im fünften Jahr unter Leitung von Claas Danielsen geblieben. Auch diesmal richtete sich der Fokus auf die Spannungsgebiete dieser Welt. In »Armadillo« begleitet Janus Metz aus Dänemark einen Trupp Soldaten aus ihrer Kleinstadt nach Helmand, wo die Männer in ihrem von 170 Dänen und Briten besetzten afghanischen Stützpunkt bald Illusionen von einem Abenteuer begraben müssen. Jeder Zivilist könnte ein Taliban sein, und von den Dorfbewohnern hören sie nur Anklagen über zerstörte Häuser und getötetes Vieh. Umso erschreckender, dass fast alle Heimkehrer 2011 nach Afghanistan zurück wollen.

Beklemmende Bilder aus Gaza: »Gaza créve l'écran« von Samir Abdallah (Lobende Erwähnung der Internationalen Jury). Nach den israelischen Bombardements um die Jahreswende 2008/09 wurden palästinensische Kameraleute und Journalisten festgehalten, ausländische Medien waren nicht zugelassen. Zerstörte Häuser, verkohlte Leichen, verzweifelte Menschen. Selbstreflexionen darüber, wie man so etwas zu filmen vermag, keine Kommentare.

Heute nicht mehr mögliche Aufnahmen gelangen auch den im Mai 2009 für kurze Zeit aus Paris nach Teheran heimgekehrten iranischen Theaterregisseur Ali Razi und seinem Ensemble. Zwanzig Tage vor der Präsidentschaftswahl nutzten sie eine nur für diese Zeit gewährte Freizügigkeit zu ganz offenen Gesprächen mit Leuten auf der Straße und bei Wahlveranstaltungen. »Twenty Days that Shook Teheran« wurde so zu einem Dokument unerfüllter Hoffnungen.

Dagegen wie aus einer anderen, archaischen Welt wirkten die ruhigen Schwarz-Weiß-Bilder in Titus Faschinas »Dem Himmel ganz nah«, einziger deutscher Beitrag im internationalen Wettbewerb. Vater, Mutter, Sohn als eine der letzten Schafzüchterfamilien in den rumänischen Karpaten. Im Wechsel der Jahreszeiten registriert die Kamera Bernd Fischers ihren ewig gleichen Alltag vor dem Hintergrund einer einsamen Berglandschaft.

Eben erst fertiggestellt, erlebte er die Uraufführung in Leipzig: »Wadans Welt« von Dieter Schumann über die Agonie der Werften in Wismar und Warnemünde. Ein Abwicklungsdrama mehr ohne Proteste oder Widerstand der Betroffenen. Wir sind nicht in Frankreich. Anfangs glaubt man noch dem Optimismus eines dauergrinsenden russischen Investors, doch die Weltwirtschaftskrise zerstört alle Perspektiven. Ein Insolvenzverwalter kann zuletzt noch 700 der 2700 Mitarbeiter zu DDR-Zeiten vorerst retten. Der Regisseur kommt seinen Protagonisten, die so etwas wie die Würde der Arbeit verkörpern, ganz nah, und man spürt mit ihnen den Zusammenbruch einer Welt.

Kein Einheitsjubiläum ohne Stasi. In Leipzig kam sie allerdings nur auf dem Umweg über Finnland schattenhaft auf die Leinwand. Pekka Lehto recherchierte genau einen Fall von Rufmord (»In the Shadow of Doubt«). Als durchsickert, dass die Geheimpolizei seit 2002 gegen den angesehenen finnischen Politiker Alpo Rusi ermittelt, stürzt sich die Medienmeute auf den vermeintlichen Hochverratsfall. Es beginnt eine Hexenjagd auf den einstigen UNO-Berater und jetzigen Kandidaten für die Parlamentswahl, der der Zusammenarbeit mit Stasi und KGB beschuldigt wird. Zuletzt geht aus den Akten der Birthler-Behörde hervor, dass die haltlosen Beschuldigungen Alpo Rusis auf dessen älteren Bruder zutreffen. Happy End: das Opfer der Kampagne mit der Drohung »Lebenslänglich« ist heute Botschafter in der Schweiz.

Beinah hätte es einen Dok-Festival-Skandal gegeben. Die Leitung distanzierte sich anfangs von der diesjährigen Retrospektive mit dem Thema »Deutschland und das Mittelalter in dokumentarischen Filmen von 1914 bis 1989«, die vom Bundesfilmarchiv in Zusammenarbeit mit dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden vorbereitet wurde. Die Furcht vor »politischer Unterwanderung« erwies sich jedoch, wie auch später eingesehen, als unbegründet, ja absurd. Wer die 35 Filme sah, konnte nur in seinem Antimilitarismus bestärkt werden.

Stolz war das Festival, das diesmal 346 Filme aus 58 Ländern zeigte, auf einen neuen Rekord: Das Preisgeld für fünf Wettbewerbskategorien hat sich auf 71 000 Euro erhöht. Warum die Internationale Jury die Goldene Taube ausgerechnet an den schwedischen Beitrag »Vodka Factory« des polnischen Regisseurs Jerzy Sladkowski vergab, erschien mir angesichts der starken fiktiven Elemente des Films nicht nachvollziehbar. Über die Konflikte einer alleinerziehenden Mutter zwischen Kind und der Verwirklichung ihrer Träume von einer Schauspieler-Karriere in Moskau wird mehr geredet, als dass der Bildsprache vertraut würde. Und die Tristesse russischer Provinz wurde schon eindringlicher geschildert.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.