Amnesty will Antworten von Rabat
Fragen nach Todesschüssen in der Westsahara
»Marokko muss zeigen, dass es nicht die UNO-Vorgaben zum Einsatz von Schusswaffen verletzt hat«, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten AI-Erklärung. Nach Angaben der Familie des Opfers war Najem El-Qarhi gemeinsam mit sechs anderen Insassen eines Geländewagens beschossen worden, als sie Lebensmittel und Wasser in das Zeltlager Gdeim Izik 15 Kilometer östlich von Al-Ayoun bringen wollten. Dort haben sich seit Monatsbeginn mehrere tausend sahraouische Bewohner der größten Stadt des besetzten Gebietes niedergelassen, um gegen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Okkupation zu protestieren. Beim Zwischenfall wurden zudem weitere sieben Sahraouis zum Teil schwer verletzt.
Laut Amnesty wurde der Leichnam des Jungen von marokkanischen Behörden ohne Beisein der Familie an einem unbekannten Ort beerdigt. Selbst der Mutter sei verweigert worden, sich von ihrem Sohn zu verabschieden. Die Verletzten seien in ein Krankenhaus in Al-Ayoun gebracht worden. Deren Familien hätten ihre Angehörigen mit Handschellen ans Krankenbett gekettet vorgefunden. Augenzeugen des Vorfalls bestreiten die Darstellung des marokkanischen Innenministeriums, wonach das Fahrzeug einen Kontrollposten durchbrochen hatte, der vorher beschossen worden sein soll.
Die sahraouische Befreiungsfront Polisario wirft Marokko unterdessen eine »schwere und flagrante Verletzung« des seit 1991 geltenden Waffenstillstands vor. In einem Schreiben fordert sie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon zu raschem Eingreifen zum Schutz der sahraouischen Zivilbevölkerung in dem unter dem Mandat der Vereinten Nationen stehenden Territorium auf.
Die Westsahara ist die letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent. Seit dem Abzug der Kolonialmacht Spanien 1975 hält Marokko etwa zwei Drittel des Gebietes besetzt. Zehntausende Familien waren damals gewaltsam vertrieben worden und leben seitdem in Flüchtlingslagern nahe der südwestalgerischen Stadt Tindouf. Der kleinere Teil der Westsahara steht unter Polisario-Kontrolle. Beide Territorien trennt ein von Marokko errichteter Militärwall. Seit fast 20 Jahren ruhen allerdings die Waffen in dem inzwischen ältesten bewaffneten Konflikt Afrikas.
Ebenso lange steckt jedoch auch der von der UNO initiierte Friedensplan in der Sackgasse. Das darin vorgesehene Referendum über Selbstbestimmung oder Anschluss an Marokko scheiterte bisher daran, dass Rabat lediglich eine begrenzte Autonomie zugestehen will. Abstimmung und Waffenstillstand sollen von der Friedenstruppe MINURSO überwacht werden, die mit ihren etwa 250 Mann zunächst noch bis Juni kommenden Jahres auf beiden Seiten des Walls stationiert ist. Die Polisario fordert seit langem vergeblich, das Mandat auch auf die Überwachung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten auszudehnen. Auch die jüngsten Gespräche des UN-Sonderbeauftragten Christopher Ross in der Region brachten keine konkreten Ergebnisse. Zumindest signalisierten beide Seiten in der vergangenen Woche ihre Bereitschaft, die 2007 begonnenen direkten Verhandlungen noch vor Jahresende fortzusetzen.
Marokko wird in seiner kompromisslosen Haltung vor allem durch die Regierungen Frankreichs und Spaniens unterstützt. Hintergrund sind die engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur marokkanischen Monarchenfamilie sowie der Zugang zu den reichen Bodenschätzen, vor allem Phosphat, Erdgas und Erdöl. Auch deutsche Firmen sind in der Region aktiv. Unter anderem kann Marokko bislang vom Fischereiabkommen mit der EU profitieren. Nachdem Juristen in Brüssel allerdings festgestellt haben, dass die Einbeziehung der Fischgründe der Westsahara gegen das Völkerrecht verstößt, ist die im März kommenden Jahres anstehende Verlängerung des Abkommens zumindest fraglich geworden.
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