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Platzt die Schlichtung in Stuttgart?

Stuttgarter Gespräche vor dem Aus? Die Projektgegner wollen der Bahn ein Ultimatum stellen / Am Südflügel des Bahnhofs wurden neue Bauteile angeliefert – das Gegenbündnis ist empört

  • Barbara Martin, Stuttgart
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit dem Neubau einer Schnellstrecke soll im Rahmen von Stuttgart 21 die Fahrzeit nach Ulm von 54 auf 28 Minuten sinken. Doch die geplante Strecke sei für herkömmliche Güterzüge zu steil, monieren die Kritiker. Darüber soll heute gestritten werden – wenn die Schlichtung nicht im Streit abgeblasen wird.

Ein weiterer Diskussionsmarathon war für heute ab zehn Uhr im Stuttgarter Rathaus geplant – doch möglicherweise platzt die Schlichtung schon nach kurzer Zeit. Projektgegner haben beobachtet, dass am Donnerstagnachmittag am Südflügel des Bahnhofs Betonfertigteile angeliefert wurden – für die Fortsetzungen der Arbeiten am Fundament der für das Grundwassermanagement in den Tunnels benötigten Halle. Gangolf Stocker von der Initiative »Leben in Stuttgart« droht nun mit dem Abbruch der Gespräche: »Entweder die Bahn baut das zurück oder sie entschuldigen sich und tun nichts. Dann werden wir fordern, dass während der Gespräche alle Bauarbeiten von uns genehmigt werden«, sagt er gegenüber ND.

Sollten die Gespräche wie geplant stattfinden, stünden zunächst offene Fragen aus der ersten Runde an. »Zur Frage Leistungsfähigkeit des Bahnhofes haben uns die S21-Befürworter nichts Überzeugendes vorgelegt«, so Stadtrat Hannes Rockenbauch von »Stuttgart Ökologisch Sozial« (SÖS). »Was sie vorgelegt haben, zeigt eher, dass dort weniger Züge fahren werden als heute.« Ebenfalls noch nicht klar sei, wie rollstuhl- und kinderwagengerecht die vier Bahngleise im unterirdischen Durchgangsbahnhof sind. Rockenbauch findet es fraglich, ob dort alles funktioniert, wenn tatsächlich hunderte Fahrgäste zu verschiedenen Gleisen unterwegs sind. Auch bei der Flughafenanbindung gebe es unklare Punkte, wie auch beim Nah- und Regionalverkehr.

Als Hauptthema war die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm vorgesehen. Die Schnellbahnstrecke von 60 Kilometern soll halb im Tunnel verlaufen und Personenzüge mit 250 Stundenkilometern über die teils extrem steile Schwäbische Alb fahren lassen. Jetzt können diese nur etwa 70 fahren.

Die neue Strecke zwischen stuttgart und Ulm gehört zur geplanten »Magistrale für Europa« von Paris nach Budapest und Bratislava. Ohne sie, so die Befürworterseite, werde Stuttgart vom europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz abgehängt. Und die Fahrzeit von Stuttgart nach Ulm soll von 54 auf 28 Minuten sinken.

Die Gegner von Stuttgart 21 kritisieren daran vor allem, dass die geplante Strecke von normalen Güterzügen nicht ohne teure Zusatzlokomotiven zu befahren sei. Insofern zementiere diese Planung eine planerische Benachteiligung des Güterverkehrs. »Von einer Verlagerung des Verkehrs (...) auf die Schiene wurde nicht gesprochen, an einen Baustopp für Autobahnen nie gedacht und der Güterverkehr sträflich ignoriert«, so auch der grüne EU-Verkehrspolitiker Michael Cramer in ND (Seite 6).

Die Befürworter verweisen dagegen auf schnelle, leichte Güterzüge. Sie könnten die Strecke problemlos nutzen. Der Trend im Güterverkehr gehe aber weiterhin in Richtung lang und schwer, so die Projektgegner.

Des Weiteren sollte es bei den von Heiner Geißler moderierten Gesprächen um die Evakuierungspläne und Notfallkonzepte für die ausgedehnten Tunnelbauten gegehn, die für Stuttgart 21 vorgesehen sind. Insgesamt würden sich diese auf etwa 60 Kilometer Schiene erstrecken.

Die Schlichtung wird, wenn sie wie geplant stattfindet, wieder live übertragen. Der Südwest-Rundfunk (SWR) will von 10 bis maximal 16 Uhr live im TV senden, im Internet soll eine Komplettübertragung stattfinden. Auch Phönix überträgt aus dem Stuttgarter Rathaus. Vorgesehen waren bisher fünf weitere Gesprächsrunden, jeweils am Freitag.


Zur Sache: Konventionell und erfolgreich

Was hat man nicht alles gelesen über die S21-Gegner: Um Parteiverdrossene soll es sich handeln, Ausdruck einer »Dagegen-Republik«! Oder doch um eine Facebook-Bewegung der allerneusten Medien? Gut, dass mal jemand bei den demos nachgefragt hat. Und was das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) nun präsentiert hat, spricht all dem Hohn.

Tatsächlich ist die überraschende Bewegung viel konventioneller, als es der Thesenjournalismus verkraften kann. So sind die Protestbürger keineswegs irgendwie gegen alles; vielmehr glauben 60 Prozent an den Parlamentarismus. Auch wenn 80 Prozent nicht zufrieden sind mit dem »Funktionieren« der Demokratie, wollen ebensoviele bei der nächsten Wahl abstimmen – allein für die Grünen.

Nicht anders sieht es mit den Medienverhalten aus: Zwar halten jeweils 80 Prozent der Befragten die Lokalzeitungen und über 50 Prozent den ARD-Regionalsender SWR für »parteiisch«; selbstverständlich wird das Internet genutzt. Doch gibt fast die Hälfte an, ganz altmodisch über Familie, Freunde und Kollegen dazugekommen zu sein. Und das typischste Medium der Bewegung ist eines der ältesten: Die »Wandzeitungen«, in die sich die Bahnhofs-Bauzäune verwandelt haben.

Vielleicht liegt dies am Alter: 62 Prozent der Befragten waren zwischen 40 und 60. Vielleicht braucht man aber auch gar keine hippen Theorien, um Bewegungen zu verstehen: Die real exekutierte Politik ist schlicht zu ärgerlich, um ruhig zu bleiben. (Velten Schäfer)

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