Merkurs Flug über den Wolken

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 3 Min.

D ass Deutschland von Gier und Eigennutz zerfressen wird, wissen wir. Dem muss endlich Einhalt geboten werden! Der »Merkur«, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hat zu einem großen Schlag ausgeholt. Gegen Boni, Korruption und Raubbau an der Arbeitskraft? Weit gefehlt, das geht in Ordnung. Das untergräbt nicht wirklich das »moderne Freiheitsdenken«, um das es, oder besser gesagt, um dessen Bedrohung es der Münchner Redaktion in einem Sonderheft mit dem schönen Titel »Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates« geht.

Nein, die »Faulheit und Feigheit« der Bürger, die den Segnungen des Liberalismus misstrauen, ist das Übel. Der Wohlstandsstaat mit seiner »komfortablen Stallfütterung« (eine Anleihe bei Wilhelm Röpke) hat das Wahlvolk in eine »selbstverschuldete Unmündigkeit« geführt. In ein Eldorado rundum versorgter, »rundum-sorgloser« Pseudo-Bürger, die »sich bequem im Hartz-IV-Hospital ernähren lassen«, wie ein Kurt Scheel (neben Karl Heinz Bohrer der zweite Herausgeber) schreibt. Ja, wo leben die Herren eigentlich?

»Der Staat möge sich heraushalten aus der Selbstregierung, der Selbstwerdung des Menschen« – so das Motto, das über fast alle Seiten des Hefts wabert. »Selbstregierung«! Als ob sich der Mensch selbst regierte! Aber für Wolkenkuckucksheimer, die in der Menschheit nur »autonome Persönlichkeiten« erkennen möchten, kann es wohl keine andere Sichtweise geben. Jeder hat sein Schicksal in der Hand (»self-blame statt system-blame«), das sei »die historische Stärke des Kapitalismus«, werden wir belehrt. Und die Gerechtigkeit? Wie ungerecht, darüber zu reden! In einer Gesellschaft, die »immer schneller eine immer größere Zahl ihrer Mitglieder alimentiert«. Wahrscheinlich aus purem Altruismus.

Die Botschaft des Merkur: Nicht etwaige Gebrechen des Staates in Sachen Wohlfahrt entmündigen die Bürger, denn wir leben »im wirklich besten aller Staaten« (Scheel) – dass er sich um Wohlfahrt kümmert, ist das Ärgernis. Und die »soziale Gehirnwäsche«, die allüberall betrieben wird. Das verwerfliche Treiben der Statistiker zum Beispiel, die »immer mehr Arme produzieren«. Dieser »demagogische Schwachsinn der sozialtherapeutischen Armutsforschung schafft es regelmäßig auf die ersten Seiten der seriösen Presse, um dann in Leitartikeln händeringend beklagt zu werden«. Unverschämt! Ist Deutschland noch zu retten?

Ja, die Medien, sie sind es doch, die »mit Wieselwörtern wie ›soziale Gerechtigkeit‹ ein gesellschaftliches Klima« schaffen, »das Züge einer Entmündigung, ja, Infantilisierung trägt«. Sie erlauben sich gar, eine vom Bundesamt für Statistik veröffentlichte Studie zu zitieren, nach der 15,5 Prozent der Deutschen gemäß den EU-Kriterien im Jahre 2008 als arme Schlucker über die Runden kommen mussten. Alles Theater! Nicht die Armut hat »etwas Erstickendes«, nein und noch einmal: Die überschießende Fürsorge eines Staates, der »Therapie und Kümmerertum als Weg zum Paradies auf Erden ansieht«, nimmt uns die Luft zum Atmen. So sieht es aus. Das sollte doch ein mündiger Bürger einsehen.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.