Bilderbogen des Terrors

Carlos – Der Schakal - von Olivier Assayas

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Édgar Ramírez als Carlos Fotos: dpa
Édgar Ramírez als Carlos Fotos: dpa

Manche Filme beeindrucken mit Prägnanz, manche durch ihren Umfang. Dieser hier dauert 190 Minuten – und das ist bereits die Kurzfassung (die Langfassung dauert fünfeinhalb Stunden). Es ist die Chronik des Lebens des lange Zeit meistgesuchten Terroristen der Welt, der erstmals im linksmilitanten Milieu der radikalen 68er auftrat und dann zu einer Art freischaffendem Terroristen wurde, ein Söldner, den jeder engagieren konnte. Hauptsache das Geld und die PR stimmten.

Regisseur Olivier Assayas geht von Station zu Station dem Leben jenes Ilich Ramírez Sánchez nach, der als Terrorist Carlos eine fragwürdige Berühmtheit erlangte und heute eine lebenslange Gefängnisstrafe absitzt. Dieser Film wirkt in jedem Moment sorgsam dokumentiert. So weiß man bereits am Anfang, wohin der barocke Bilderbogen der Gewalt uns führen wird: zum Ende dieser Karriere im Kalten Krieg, die gleichzeitig mit diesem endete. Da versuchte man, derartig unkontrollierbare Einzelkämpfer an der unsichtbaren Front schnell und unauffällig loszuwerden – in Sudan wird Carlos schließlich verhaftet.

Zu dieser Zeit ist Carlos bereits ein müde gehetztes Stück Wild, ein feister Trinker, der jedem, der ihm zu nahe kommt, ohne zu zögern aus nächster Distanz eine Kugel ins Gesicht schießt. Ziel immer auf die Nase, wenn Du jemanden aus Nahdistanz töten willst! So hat man es ihm in den sechziger Jahren in einem dieser Terrortrainingslager im Nahen Osten beigebracht. Das tat er dann auch immer wieder. Ein moralisch verkommener Mensch, ein Killer, außergewöhnlich gefühlskalt und sehr gewöhnlich in seinem Drang nach viel Geld und billigem Luxus, anfangs noch drapiert mit pseudomarxistischen Slogans. Ist es so einer denn wert, einen mehrere Stunden langen Film über jede Verästelung seines Lebenslaufs zu drehen?

Aber Regisseur Olivier Assayas will mehr als nur Aufstieg und Fall eines von Geheimdiensten und extremistischen Gruppierungen aller Couleur angeheuerten Auftragsmörders, Geiselnehmers und Bombenlegers dokumentieren – er versucht mit »Carlos« eine großangelegte Geschichte des Kalten Krieges zu erzählen. Doch sie bleibt eine abgefilmte Chronik, wird nicht groß (dazu müsste sie eine eigene Filmdramaturgie besitzen, Handlung verdichten und Akzente setzen), sondern nur breit. Für die Behäbigkeit seiner Anlage wirkt »Carlos – Der Schakal«, eine Produktion mit 120 Schauspielern aus aller Welt, darunter auch deutsche wie Alexander Scheer, Udo Samel und Nora von Waldstätten, dann allerdings erstaunlich schnell, geradezu unterhaltsam: ein überdimensionierter Thriller.

Jeder sieht einen Film anders. Für mich war diese Abfolge von Anschlägen eher uninteressant, so spannungsreich sie auch im Detail gespielt wurden – es passiert eben doch immer das Gleiche. Mich beeindruckte etwas anderes: die Verwandlung von Édgar Ramírez, wie Carlos Venezolaner, der den Terroristen spielt. Nach dem Mord an zwei Polizisten muss dieser monatelang untertauchen. Wir sehen ihn in einer Einstellung, bevor er von der Bildfläche verschwindet. Er sitzt nackt auf dem Rand einer Badewanne, durchtrainiert, die Kamera verweilt vielleicht einen voyeuristischen Moment zu lange auf seinem Genital, so als wären wir hier in einem Pornofilm, und er philosophiert über seinen Körper, der wie ein Waffe sei – oder auch andersherum, von seiner Waffe als Verlängerung seines jederzeit kampfbereiten Körpers. Mit diesem martialischen Selbstbekenntnis bleiben wir allein und dann begegnen wir Carlos einige Monate später in seinem Versteck in einem arabischen Land. Wieder ist er nackt, wieder ist es zweifellos Édgar Ramírez – und er ist auch wieder nicht. Ein aufgeschwemmter träger Mensch, der nun nicht mehr seinen Penis wie eine Waffe vor sich her trägt, sondern ein schier waffenloses Wrack von einem Mann. Drei Wochen Drehpause mussten Ramírez genügen, sich in diesen feisten Klumpen Fett zu verwandeln. Nicht beneidenswert eine solche Aufgabe, wenn man die bereits erreichte Höhe seine Trainingszustandes bedenkt.

Spektakulärer Höhepunkt des Films ist die Erstürmung des OPEC-Hauptgebäudes in Wien 1975 durch eine von Carlos geführte Terrorgruppe. Die tagende Runde der Ölminister wird zu einer Gruppe von Geiseln. Da verdichtet sich die Handlung plötzlich zu einem Kammerspiel aus Angst und Gewalt. Vielleicht hätte man das zum Mittelpunkt eines Films über Zeit und handelnde Personen machen sollen, anstatt nur zu einer von vielen Stationen, die Assayas mit umständlicher Gründlichkeit abarbeitet. Dabei gelingt dann letztlich weder das Psychogramm des Terroristen Carlos, noch eine Innenansicht der radikalisierten politischen Protestszene vom Ende der 60er Jahre, aus der heraus es dann die Übertritte zum selbstläufigen Terror gab. Und immer fragt man sich als Zuschauer, was ist hieran nun faktisch genau rekonstruierte Realität, was Fiktion?

Der Film, so heißt es, sei aufgrund von Polizei- und Gerichtsakten entstanden. Jedoch die Beziehungen der handelnden Personen untereinander bleibe fiktiv. Es ist eben eine falsche Frage an ein Kunstwerk – und als solches sollte sich auch ein Film verstehen: wie »realistisch« die Handlung sei. Ein Film darf nicht einem äußeren Maßstab des Realismus hinterherlaufen, sondern muss diesen selbst erzeugen. Das jedoch geschieht hier nur stellenweise. Und so fällt das Resümee zu diesem biedermeierlich in die Breite gegangenen Opus dann doch schmal aus: Durchschnitt.

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