Ohne Verrat kein Vertrauen

Heute wird Schauspieler Alain Delon, der eiskalte Engel des französischen Films, 75 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt offenbar, mählich, eine Wiederkehr der Geheimnisse. Gar lange waren die Fronten traurig begradigt, die Nebel hatten über beträchtliche Zeiten ihren Zauber verloren. Jene Fronten nämlich zwischen Gut und Böse; und jene Nebel, hinter denen Gesetzesschutz und Gesetzesbruch eine schlierige Kumpanei aushandelten. Das hatte den europäischen Kriminalfilm veröden lassen, ja, er war geheimnislos geworden – durch eine von Beginn an besserwisserische, unbefragbare Festschreibung des Guten und Gerechten und allseits Gerechtfertigten auf Ermittlerseite und des von vornherein Schäbigen und Verwerflichen auf Gejagtenseite.

Klaus Löwitschs TV-Detektiv Peter Strohm war von der Anlage her einer der letzten Helden des Diffusen, also der Verführbarkeit des Fahnders durch kriminellen Kitzel; in US-Filmen retteten Robert De Niro und Al Pacino jene Romantik des moralischen Verderbens, die nicht danach fragte, ob sie Außenseiter oder Kommissare ergriff. Und jüngst entwarfen Werner Herzog und John Cage mit »Bad Lieutenant« das schlangenkühl schillernde Bild des gefallenen Engels im Polizeiauftrag, des rotzig Schlingernden auf rechtem Wege, des dämongetriebenen Treibjägers. Und inzwischen – ja, Wiederkehr der Geheimnisse, zumindest Annäherung ans Uneindeutige! – steigt sogar wieder im »Tatort«-Fernsehen die Zahl der Kommissare, die ihre luschige Saubermännlichkeit, ihre gescheitelte, unantastbare Legitimation als Supersittenwächter ablegen dürfen und phasenweise unglückliche, verwirrt dreinschauende Verwickelte werden müssen.

Was das mit Alain Delon zu tun hat? Er war in seinen besten Filmen einer der Protagonisten jenes französischen Kinos, das bei aller kristallinen Schärfe davon handelte, wie der Ehrenkodex zwischen Polizisten und Gangstern sehr verschwommene Austauschgeschäfte betrieb. Der alte US-amerikanische Gangsterfilm war gleichsam nach Frankreich ausgewandert, in die Ödnis der Pariser Außenbezirke oder in die genässten Kai-Straßen alter Hafenstädte, wo sich ohnehin die Grenzen zwischen Kino und Wirklichkeit verloren und wo Jean-Pierre Melville oder Louis Malle und René Clément ihre Sets aufbauten. Erpicht auf bläuliches Licht hinter beregneten Windschutzscheiben und süchtig nach der Düsternis von Schattenwelten – um jeder helleren Farbe, die es in einem Film auch geben kann, diesen glaubhaft fesselnden Grundton des schönsten Zynismus der Filmgeschichte zu geben.

Jeder Blick tödlich, jedes Herz ein blutendes, sobald man ihm zu nahe kommt, und die rotgeschminkten Lippen, die eine Frau küssend riskiert, sind in diesen Filmen kälter als der Tod. Eine Zigarette drückt sich glühend in die Haut der Nacht, die schreit vor Schmerz ein Chanson, und von den Autoscheiben rinnt weiter und wieder das Regenwasser – es ist der Vorhang, mit dem sich die nackte Wahrheit vor den Zugriffen einer ordnenden, aber letztlich heuchelnden Ethik schützt, die mit ihren Sirenen Tatorte umheult. Während der Mörder nur geduldig darauf wartet, ein Mythos zu werden. Er ist es immer schon.

Alain Delon mag privat sein, was er will und war und wurde: früh ein Straffälliger, der sich als Killer in den Koreakrieg flüchtet, spät ein politisch Rechter, dazwischen ein sympathisierender Unterweltler, verwickelt in Mordanklagen, und in den Schilderungen fast aller, die ihn kennen, ein »Kotzbrocken« – im Film bleibt er, etwa als junger Boxer in Viscontis »Rocco und seine Brüder« oder in Antonionis »Liebe 62«, dann im »Clan der Sizilianer«, als talentierter Tom Ripley der Patricia Highsmith oder als auftragskillender »Eiskalter Engel«, eine legendäre Kino-Gestalt des 20. Jahrhunderts.

In den letztgenannten beiden Rollen hat sich sein Ruf als Ikone des reizend Antibürgerlichen geradezu perfekt vollendet. So anziehend traurig wie skrupellos gefühlsarm; so leise wie ein Herzschlag unterm Trenchcoat; als Mann verstörend schön, aber dennoch seltsam synthetisch und weich, als habe sich eine Frau in eine marmorne Maske geworfen; der nahezu androgyne Verbrecher mit Stil; oder der Mann, der tötet, um vielleicht eine Sehnsucht zu erwecken; oder der Rächer, der vor seiner eigenen Frostigkeit erstarrt. Liebe? In den besten Filmen mit Delon ist es das, was der Dichter Albert Ostermeier in die Verse fasst: »nur wenn/ man zu zweit ist gibt es einen verräter/ und ohne den verrat kein vertrauen«.

Ob sie Gérard Philipe hießen oder Jean-Paul Belmondo oder Gérard Depardieu – sie wollten quasi durch die Kamera ins Kino blicken, sie schauten ins Objektiv, um dahinter unseren Blick zu treffen. Menschensehnsucht. Delon aber schaute in die Kamera wie in den Abgrund, der seine Heimat war. Nie menschennah. An der Kamera brach sein Blick ab. Der schönste Ferngesteuerte und lebendig Leblose. Wie von Cocteau gezeichnet. Perlmutt. Pergament. Die Verlorenheit der Gestalten war Ausdruck einer perfekten Form, die es aufgegeben hatte, nach der Gnade zu suchen, ein menschliches Glück zu empfinden.

Wie er als Tom Ripley das Bourgeoise und das Verbrechen zur charmanten unbeweisbaren Einheit führt, wie er als Auftragskiller im »Eiskalten Engel« seinen eigenen Tod als romantisches Epos inszeniert – das bricht auf sensationelle Weise mit dem Gewöhnlichen, und als die größte apokalyptische Gefahr besagter Bourgeoisie erweist sich deren eigene Moral. Das hat keiner so rein, so verzehrend, ja so romeoundjuliahaft gespielt wie er! So, als spiele er gar nicht, sondern verschenke seine ästhetische Gabe an die Schönste der Welt: die Gewissenlosigkeit. Wann immer dieser Schauspieler jedoch versuchen sollte, auf Augenhöhe mit dem Publikum zu sein, also Identifikation anzubieten und den Sog seiner Wirkung in den Dienst des Unfinsteren zu stellen (»Zorro«, »Schwarze Tulpe«), war er schlichtweg Konfektion – erster Güte freilich; das war aber nicht mehr als nur gutes Kino.

Vielleicht hat die Filmgeschichte nie wieder so einen Großen der temperaturstürzlerischen Abkehr hervorgebracht, der in die Kamera schaute, als erwarte er ein Verwandtschafts-Zwinkern aus Leichenhallen, aus dem Jenseits. Sein Kapital war seine Abwesenheit. Als zählten die Wangenknochen bis zehn, bis sie sich bewegten. Selbst sein liebender Adliger in Viscontis »Leopard« war schon frühe ich-lose Verweigerung von Nähe. Delon war spielend ein Agent des Todes, ein Botschafter von dessen graziöser Allmacht und dessen permanent fiesen Mörderei. Diesen zierlichen, winterlich kühlen Gestalten galt das Dasein nichts, weil es zu vieler Leben bedurft hätte, um eine einzige Existenz gelingend bestreiten zu können. Welche Wahrhaftigkeit!

Nie wusste man, ob seine Skrupellosen, seine entsetzlich Einsamen, seine raffiniert Tötenden »nur« die hässlich Verirrten eines bösen Instinkts gewesen sind, oder ob sie in ihrer Verirrung weise und konsequent auf eine Welt reagierten, die Gewalt verdient, weil sie Gewalttätigkeit als Gesetz vorgibt. Just dies ist das Geheimnis, das immer mal die Seiten wechselt.

Delon blickte weg. Aber wir blickten ihm sehnsüchtig nach: Denn Mörder gibt es, teuflische Seelen, die machen dich elend melancholisch. Schaurig-schön war es, mit diesem Empfinden spät abends aus dem Kino zu kommen. Glücklich, wer auf dem Nachhauseweg einen Kragen hochschlagen konnte.

Heute wird Alain Delon fünfundsiebzig Jahre alt.

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