EU schaut in der Westsahara weg
Nur Hilfsorganisationen und Gewerkschaften kritisieren die Besatzungspolitik Marokkos
Die bisher schlimmsten Unruhen in der seit 35 Jahren von Marokko besetzten Westsahara haben nach jüngsten Angaben der Befreiungsfront Polisario 19 Tote, mehr als 700 Verletzte und 159 Vermisste gefordert. Die Besatzungsbehörden sprechen von sechs Toten, davon fünf Angehörige der Sicherheitskräfte. Europäischen Beobachtern wird der Zugang zu der unter Ausnahmezustand gestellten Stadt Al Ayoun verweigert. Journalisten und Parlamentarier werden seit Wochenbeginn auf dem Flughafen Casablanca an der Weiterreise zum Schauplatz der blutigen Auseinandersetzungen gehindert.
Vor allem in Madrid, Paris und Rom forderten Hilfsorganisationen und Gewerkschaften eine Aufklärung des Geschehens bei der gewaltsamen Räumung des Protestcamps Gdeim Izik mit 20 000 Sahrauis sowie der anschließend im nahegelegenen Al Ayoun ausgebrochenen Unruhen. Zugleich verlangten sie von Europa, in dem Konflikt nicht mehr mit gespaltener Zunge zu reden.
Eine Lösung im letzten Kolonialgebiet Afrikas scheiterte bisher an der unnachgiebigen Haltung Rabats. Ein UNO-Friedensplan hat zwar 1991 einen Waffenstillstand gebracht, der seitdem von der Friedenstruppe Minurso überwacht wird. Das darin ebenfalls 1991 für die etwa 370 000 Sahrauis vorgesehene Referendum über Selbstbestimmung oder Anschluss an Marokko wurde jedoch immer wieder verschoben. Streitpunkt sind die zugelassenen Stimmberechtigten. Marokko besteht darauf, nicht nur die dort angestammten sahrauischen Einwohner, sondern auch später hinzugezogene Marokkaner zuzulassen. Damit soll ein Ausgang der Abstimmung zugunsten Rabats garantiert werden. Sowohl König Mohamed VI. als auch die Regierung machten vor wenigen Tagen klar, dass sie niemals mehr als eine Autonomie zugestehen werden.
Marokko kann sich bei dieser Haltung vor allem der Unterstützung aus Madrid und Paris sicher sein. Frankreich verhinderte erst im April, dass der UN-Sicherheitsrat das Minurso-Mandat auch auf die Einhaltung der Menschenrechte ausdehnt. Dahinter stecken handfeste Wirtschaftsinteressen. Immerhin sind 750 Firmen in Marokko aktiv und sorgen dafür, dass sich die Investitionen in den vergangenen sechs Jahren auf 8,1 Milliarden Euro verdreifacht haben und das Handelsvolumen 2009 auf sechs Milliarden Euro gestiegen ist. Zudem liebäugeln französische Energieunternehmen mit den umfangreichen Ölvorkommen vor der Küste der Westsahara.
Die Schätze dieser Gewässer sind auch der Grund für die spanische Marokko-Freundlichkeit. Allerdings geht es hier um die Fischgründe. Rückendeckung hat dabei bisher die Europäische Union gegeben. Das 2007 mit Marokko geschlossene EU-Fischereiabkommen erlaubte bislang 119 Schiffen, davon 100 spanischen, vor marokkanischer Küste zu fischen. Rabat bekommt dafür jährlich 36,1 Millionen Euro, von denen 13,15 Millionen für Nachhaltigkeit eingesetzt werden müssen. Allerdings stellte der juristische Dienst des Europaparlamentes im Frühjahr fest, dass der Vertrag völkerrechtswidrig ist, da er die Gewässer der Westsahara einschließt. Dieses Gebiet ist seit 1966 von der UNO als nicht autonom regiertes Territorium eingestuft. Bislang ist offen, ob das im Februar 2011 auslaufende Abkommen verlängert wird.
Auch deutsche Firmen betrachten internationales Recht als zweitrangig, wenn es um die Westsahara geht. So plant das Wüsten-Energie-Projekt Desertec Windanlagen auch in den besetzten Städten Al Ayoun und Dakhla. Partner sind dabei marokkanische Firmen.
Dies alles geschah bisher nahezu unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit. Das brutale Vorgehen Marokkos in den besetzten Gebieten lenkt ungewollt jetzt nicht nur die Aufmerksamkeit auf diese unlauteren Praktiken, sondern erhöht auch den Druck auf die europäischen Regierungen, sich zu dem Konflikt zu verhalten. Dies liegt im ureigenen Interesse Europas, wenn ein erneuter Krieg in der Nachbarregion verhindert werden soll. Nach Einschätzung von Beobachtern war die Gefahr, dass Marokko und die von Algerien unterstützte Polisario wieder zu den Waffen greifen, noch nie so groß wie jetzt.
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