Werbung

Studenten proben den Aufstand

In Großbritannien richtet sich der Zorn nicht nur gegen die Erhöhung der Studiengebühren

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie in alten Zeiten demonstrierten kürzlich Zehntausende in London gegen eine konservative Regierung, manche skandierten eine leicht abgewandelte Parole aus den 1980er Jahren: »Maggie, Maggie, Maggie! Stirb, stirb, stirb!«. Ein kleines Häuflein aufsässiger Studenten erzwangen den Eintritt zur Tory-Zentrale, stürmten aufs Dach, warfen einen abgeschraubten Feuerlöscher in Richtung der hilflosen Polizisten herunter. Vom G20-Gipfel in Seoul bekundete Premier David Cameron seinen Unmut. Woher das Engagement einer bisher lammfrommen Generation?

1968 wollten die Studierenden wegen dem Vietnam-Krieg die US-Botschaft im piekfeinen Grosvenor Square unsicher machen, 1990 kam es zu Krawallen gegen Thatchers Kopfsteuer, durch die Prinzen und Putzfrauen den gleichen Betrag an die jeweilige Kommune abführen mussten. Straßenschlachten läuteten das Ende der Thatcher-Ära ein. Doch die hiesigen Blaugelben, Camerons Tories und Nick Cleggs Liberale, haben seit Mai ein klares Mandat der Volksmehrheit, rauscht es im konservativen Blätterwald. Langhaarige linke Lümmel seien gewalttätig aufgetreten. Dass die allermeisten Studenten grimmig aber friedlich demonstrierten, ging bei manchen TV-Zuschauern und Zeitungslesern unter.

Unmittelbarer Anlass des Wutausbruchs ist eine Regierungsvorlage, die die schon weit über 3000 Pfund im Jahr liegenden Studiengebühren verdreifachen sollen. Bereits heute verlassen Studierende die Hochschulen mit Schulden in fünfstelliger Höhe, viele müssen wohl jahrelang Teile ihres Gehalts ans Finanzamt abführen. Am allerschlimmsten bleibt die Angst von Jugendlichen aus bisher bildungsfernen Schichten, die sie vom Studium abschrecken könnte. Die National Union of Students argumentiert ferner, dass Hochschulabsolventen als Ärzte oder Lehrer der Gesellschaft dienen, ihren Mitbürgern helfen; also sollten alle Steuerzahler fürs gesamte Bildungswesen aufkommen – wie zu den Zeiten, als Cameron und Clegg studierten.

Nach ihren Wahltriumph 1997 brach jedoch New Labour mit diesem Prinzip. Die an sich erwünschten höheren Studentenzahlen führten zu zusätzlichen Kosten. Eine Kommission empfahl, entweder Gebühren einzuführen oder die bisher gewährten Stipendien nur als Darlehen anzubieten. Bildungsminister David Blunkett, blinder Sohn einer Sheffielder Arbeiterfamilie, entschied sich gegen die eigene Herkunft, führte Gebühren ein und schaffte Stipendien ab. Alan Johnson, ehemaliger Briefträger ohne Studium, boxte die verdreifachten Gebühren auf 3000 Pfund im Jahr durch – gegen eine Rebellion von 70 Labour-Parlamentariern. So fiel es den Konservativen leicht, eine weitere Verdreifachung der Kolleggelder mit der Wirtschaftskrise zu begründen.

Der Zorn der Demonstranten richtete sich nicht nur gegen Cameron, von den Tories hatten die meisten eh nichts Gutes erwartet. Aber die Liberalen hatten bei den beiden letzten Parlamentswahlen hoch und heilig versprochen, die Gebühren abzuschaffen oder wenigstens nicht weiter steigen zu lassen. Dass ausgerechnet der liberale Wirtschaftsminister Vince Cable die Vorlage im Unterhaus verteidigen musste, stempelt die Partei zu Umfallern ab. Ein vor einer Woche veröffentlichtes Buch bewies, dass Parteichef Clegg den Rechtsschwenk schon längst plante, als er der Studentengewerkschaft im April das genaue Gegenteil versprach. Einige Demonstranten meinten nach der Demo selbstkritisch, dass sie auch die Zentrale der Liberalen hätten besetzen sollen. Dafür ist noch Zeit: am 24. November ist eine weitere Demo geplant. Tony Woodley, Vorsitzender der größten britischen Einzelgewerkschaft UNITE, bietet Unterstützung an: »Der Zorn und die Leidenschaft der Studenten werden von Millionen Arbeitnehmern geteilt. Wenn sich die Regierung bei den Kürzungen nicht anders besinnt, gehen bald Millionen auf die Straße«.

Doch nicht nur Studenten, auch Hochschullehrer nahmen an der Demonstration teil. Dazu gehörte der in der Gewerkschaft University and College Lecturers Union (UCU) engagierte Stephen Bellas, der seit vielen Jahren an einer »neuen Universität« in Süd-London unterrichtet. Gegenüber ND bemängelte Bellas, dass der Grundsatz des Robbins-Berichts aus den 1960er Jahren, wonach jeder und jede die Chance bekommen sollte, seine Fähigkeiten zu entwickeln, an Massenuniversitäten wie der seinen dahin sei. Dort zählten die schärferen Ellenbogen und die größere Anpassungsfähigkeit, Kritikbereitschaft sei nicht mehr gefragt. Anspruchsvolle Kurse wie ein Abschluss mit zwei europäischen Fremdsprachen, Politik- und Wirtschaftswissenschaft sind zugunsten von leichteren Allerweltsfächern wie Betriebswirtschaft gestrichen worden. In Großvorlesungen würde Seminarstoff wie Tomatendosen aufgestapelt und billig verkauft – in Bellas' Worten die »Lidlisierung« der Wissenschaft –, während Forschung und das damit verbundene Prestige auf Traditionsuniversitäten wie Oxford, Cambridge oder Durham konzentriert sei.

Derweil verlangen die Universitätsrektoren notgedrungen die Gebührenerhöhung, weil die Regierung vier Fünftel der Summen für den Hochschulunterricht streicht. So kann der fehlende Betrag nur durch Studiengebühren ersetzt werden. Die sind aber erst nach Abschluss des Studiums fällig: was ist mit der Zwischenzeit? Traditionsuniversitäten leben auch von Erbschaften, haben eine Menge reicher Absolventen, brauchen nicht dem Markt blindlings zu vertrauen. Aber die neuen Universitäten hätten kein solches Polster, einige könnten gar pleite gehen, argumentiert Bellas.

Und wie geht's weiter? Obwohl die geplante Gebührenerhöhung viele Studenten zur Weißglut reizt, obwohl manche auch die Qualität ihrer Kurse mit Recht hinterfragen, kommt jetzt der Winter. Referate müssen vorbereitet, Prüfungsstoff gebüffelt werden, jobben muss fast jeder Studierende schon längst. Aber Studentensprecher Aaron Porter meint ebenso wie Hochschullehrer Bellas, dass der Konflikt trotzdem andauern wird. In Anlehnung an die gebrochenen liberalen Versprechungen wurden Karten ausgefüllt und an Abgeordnete geschickt, um sie zur Umkehr zu bewegen. Genutzt werden auch die neuen Medien wie etwa Twitter. Porter hat parlamentarische Ambitionen bei Labour: der Vorsitzende der Studentengewerkschaft NUS gibt sich also moderat. Bellas ist kampflustiger. »Wer weiß, ob die Verdreifachung der Studiengebühren bei sinkender Unterrichtsqualität nicht Cameron zu Fall bringt, wie die Kopfsteuer Thatchers Ende bedeutete?«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.