Eine Mühle im Sudetenland

»Habermann« von Juraj Herz

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Motive, die sind so fest in die Geschichte des Kinos eingegangen, dass sie kaum mehr von jenen Geschehnissen entkoppelt werden können, für die sie als filmsprachliche Metaphern stehen. Zum Beispiel das Bild des Eisenbahnwaggons, in den Menschen zu Hunderten hineingeprügelt werden. Seit mehr als fünfzig Jahren, im Grunde genommen seit Wanda Jakubowskas erstem polnischen KZ-Film »Die letzte Etappe« (1948), bezeichnet es die Verbrechen des Holocaust. Nun beginnt auch der 76-jährige tschechische Altmeister Juraj Herz seine neueste Arbeit »Habermann« mit einem solchen Motiv: Frauen, Kinder und alte Männer werden mit Gewehrkolben traktiert und zu Güterwagen getrieben. Plötzlich ein Zwischenschnitt: Einer der Peiniger pinkelt auf ein gerahmtes Hitler-Porträt, das neben den Gleisen liegt. Die Aufnahme signalisiert, dass es sich bei den geschilderten Vorgängen um etwas anderes handeln muss als um die Shoa. Tatsächlich geht es in »Habermann« um eine der Folgen der NS-Zeit: die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Rund drei Millionen Sudetendeutsche mussten 1945/46 fliehen, rund 240 000 kamen dabei ums Leben. Der tschechische Staatspräsident Beneš bezeichnete die Vertreibung damals euphemistisch als »Beseitigung des Deutschenproblems«, und jahrzehntelang wurde ein großes Schweigen über die Ereignisse gebreitet. Im tschechischen Kino der 1960er Jahre gab es einige mutige Ansätze, dieses Schweigen zu durchbrechen und die vergiftete Atmosphäre der Nachkriegszeit in bemerkenswerter künstlerischer Verdichtung zu skizzieren: »Adelheid« (1969) von Frantisek Vlácil war so ein Film, mit Figuren fast wie aus einer griechischen Tragödie. Die DEFA erinnerte unter anderem mit Günther Rückers melancholischer, autobiografisch inspirierter Reminiszenz »Hilde, das Dienstmädchen« (1986) an die verlorene Heimat. Hier wie in den wenigen anderen DEFA-Filmen zum Thema wurde allerdings vor allem darauf geachtet, die politischen Ursachen der Aussiedlungsaktion gebührend ins Bild zu setzen: Vor dem Exodus der Sudetendeutschen lag die Okkupation mit all ihren Schrecken. Die Schrecken der Vertreibung selbst, die tschechische Schuld, blieb ausgeblendet; abgesehen davon, dass die offizielle Politik ein striktes Tabu über das Thema gelegt hatte, war die Scheu vor einer unangemessenen Spirale gegenseitigen Aufrechnens groß.

Nun also »Habermann«, ein Panorama der Jahre 1937 bis 1945: Szenen aus einem Dorf im Sudetenland, mit einer weit gefassten Personnage, die alle Facetten von Anpassung und Widerstand, Vertrauen und Verrat, politischen und privaten Motivationen abzudecken sucht. Im Zentrum steht der Besitzer einer Mühle, eben jener August Habermann (Mark Waschke), ein Deutscher, der sich mit seinen tschechischen Arbeitern gut versteht, ihre Sprache fließend spricht und dem Einmarsch der NS-Truppen eher distanziert begegnet. Seine Frau Jana (Hannah Herzsprung) ist Halbjüdin, was nur wenige im Dorf wissen: Ihr jüdischer Vater war schon vor ihrer Geburt verschwunden; sie selbst erfährt erst spät von dieser Herkunft. Der opportunistische Bürgermeister des Ortes hütet das Geheimnis als Faustpfand: Wer weiß, was man damit noch anfangen kann. Augusts Bruder (Wilson Gonzales Ochsenknecht) läuft der einmarschierenden SS stolz hinterher; später, im Krieg, wird er schwer verwundet und von Jana gesund gepflegt. Schließlich der SS-Scherge Koslowski (Ben Becker): ein brutaler Schlächter, der sich 1945 mit Hilfe des katholischen Priesters und des Vatikans nach Argentinien abzusetzen versucht, aber mitsamt seinem Fluchtauto schon in den tschechischen Wäldern in die Luft fliegt.

Viele Figuren sind typisiert: der gute und der böse Deutsche, der treue und der verräterische Tscheche und so weiter. Herz glaubte, auf solche Vereinfachungen nicht verzichten zu können, um dem Zuschauer den Überblick in seinem ausufernden Zeitpanorama leichter zu machen. Aber der atemlose Parforceritt durch die Besatzungsjahre, das lautstark zelebrierte dramaturgische Auf und Ab von Schuld, Rache und neuer Schuld, die fast ununterbrochene illustrative Begleitmusik tragen allesamt nicht zur Subtilität des Films bei. Weniger wäre mehr gewesen. Und es wäre auch durchaus möglich gewesen, aus dem zugrunde liegenden, breit angelegten Roman einen eher novellistischen Film zu filtern, der die Tragödie Habermanns viel besser auf den Punkt gebracht hätte. Ich meine die Episode fast am Schluss von »Habermann«, in der die Titelfigur von dem SS-Offizier gezwungen wird, als »Vergeltung« für zwei erschossene deutsche Soldaten zehn Tschechen aus dem Dorf zu benennen, die nun ebenfalls ihr Leben lassen sollen. Habermann sieht sich in einem tiefen Gewissenskonflikt, schreibt schließlich seinen eigenen Namen zehn Mal auf. Den SS-Mann rührt das nicht. Wenig später, nach dem Ende des Krieges, wird Habermann von aufgeputschten Tschechen zu Tode gefoltert. Nun sieht man in ihm nur den »Deutschen« – das genügt, um ihn an sein Mühlrad zu knoten und zu ersäufen. Dass es Tschechen sind, die anschließend auch sein Haus ausrauben, sich an seinem Besitz gütlich tun, gehört zu jenen Szenen, über die in Prag derzeit heftig diskutiert wird: Hatte die Vertreibung der Deutschen nicht auch viel mit menschlicher Gier zu tun?

Juraj Herz hat einmal wirklich bedeutende Filme gedreht, man denke nur an den »Leichenver-brenner« (1968), die bitterböse Studie eines Bürokraten und Opportunisten, der den Nazis den Boden bereitet. »Habermann«, eine deutsch-österreichisch-tschechische Koproduktion, erinnert nur in Momenten an diesen vergangenen, leider inzwischen fast vergessenen großen Wurf.

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