Links oder rechts liegen gelassen
SPD leidet unter ihrer Bedeutungslosigkeit – und wird wohl erneut in Streit verfallen
Heute ist bundesweit Vorlesetag, bei dem 9000 Prominente landauf landab Kindern die Lust am Schmökern vermitteln wollen. In der Liste der illustren Vorleser ist auch der Name Franz Müntefering verzeichnet. Welches Märchen wird der ehemalige SPD-Vizekanzler und -Parteichef im westfälischen Meschede den Schülern der Martin-Luther-Schule wohl erzählen? Das über einen, der auszog, das Fürchten zu lernen oder doch mehr das vom treuen Johannes?
Fest steht, dass in seiner SPD das Fürchten nach dem historischen Abrutschen auf 23 Prozent im Herbst vergangenen Jahres lang noch nicht beendet ist – fest steht aber auch, dass die Genossen Münteferings ewige Treue nicht durchgängig honorieren. Was für Parteichef Gabriel nicht immer leicht zu handhaben ist. Zum einen wollen und wollen die Umfragewerte nicht besser werden. Zum anderen geht den einen die Absatzbewegung vom einstigen Schröder-Steinmeier- und Müntefering-Kurs mit Hartz-Gesetzen und Rente mit 67 nicht weit genug und den anderen inzwischen schon viel zu weit. Ironie der Geschichte: Auf der Agenda 2010 stand für die Sozialdemokraten vor allem schmerzhaftester Spagat.
Das blieb freilich auch der Kanzlerin nicht verborgen, weshalb sie bei der Elefantenrunde am Mittwoch den SPD-Zick-Zack-Kurs noch einmal mit unverhohlenem Hohn bedachte, um dann ziemlich schnell zu den Grünen überzugehen. Deren andauerndes Umfragehoch und derzeitig nicht auszuschließender Erfolg bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März nächsten Jahres bereitet ihr freilich derzeit mehr Sorgen. Verliert die CDU nach mehr als 50-jähriger Regierungszeit im Ländle, wäre das für Merkel höchstselbst nicht ungefährlich.
Auch für die SPD steht im nächsten Jahr einiges auf dem Spiel. In Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz müssen sich mit Klaus Wowereit, Jens Böhrnsen, Erwin Sellering und Kurt Beck sozialdemokratische Regierungschefs zur Wiederwahl stellen. Ganz abgesehen davon, dass ihre Amts-Genossen Hannelore Kraft in NRW und Matthias Platzeck auch ohne Neuwahl (sei's ob der schwierigen Machtkonstruktion oder diverser Enquetekommissionen) genug Ärger an der Hacke haben – der Verlust eines weiteren Landes würde die Auseinandersetzungen zwischen den widerstrebenden Kräften in der SPD nur verschärfen.
Insofern müssten Gabriel und Andrea Nahles – die übrigens zum ersten Jahrestag ihres Chefinnen-Daseins im Berliner Willy-Brandt-Haus gestern von »Welt-online« als Generalsekretärin für Irritation und Propaganda verspottet wurde – den Strategen vom »Seeheimer Kreis« um den Niedersachsen Garrelt Duin dankbar sein. Die wollen nämlich schon jetzt Nägel mit Köpfen machen und das Rollback der SPD zum Schröderschen Reformkurs erreichen. In ihrem Papier »Mut zur Sozialdemokratie« konstatieren sie, dass die Partei »in einer schweren Identitätskrise« stecke und »auf Zeit« spiele. Die Partei habe keine schlüssigen Antworten auf die Fragen vieler Menschen, wofür sie stehe und sei unkenntlich geworden, weil sie mal Hü und Hott zum selben Thema sage. »CDU und Grüne bestimmen die politische Diskussionen, die SPD kommt kaum vor und wird nicht gefragt«, jammern die Seeheimer und bestätigen mit ihrem bereits im Oktober verfassten Ordnungsgong für Parteichef Gabriel gegenwärtige Kanzlerinnentaktik.
Entweder hat Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit den Schuss aus den eigenen Reihen nicht gehört oder sieht eher mit genau entgegengesetztem Handeln die Chancen der SPD beim Wähler steigen. Berlin jedenfalls will heute im Bundesrat gegen die Hartz-IV-Regelungen stimmen, ließ der Senat gestern die Öffentlichkeit wissen. Was auch immer Vorleser Franz Müntefering der künftigen Generation mit auf den Weg zu geben haben wird – Wann wir schreiten Seit' an Seit' bringt der wohl nicht mehr über die Lippen.
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