Belgiens Politik hält die Luft an
Bei der ein weiteres Mal gescheiterten Regierungsbildung hoffen nun alle auf den König
Ein weiterer Versuch zur Lösung der Staatskrise ist über 200 Tage nach den Wahlen in Belgien Ende vergangener Woche gescheitert. Der königliche Vermittler Johan Vande Lanotte warf das Handtuch. König Albert II. erbat sich bis diesen Montag Bedenkzeit. »Ich habe nicht genügend Verhandlungswillen vorgefunden«, erklärte Lanotte. Denn die beiden größten Parteien in Flandern, die Neue Flämische Allianz N-VA und die Christdemokraten CD&V, hatten sogleich Änderungen des Arbeitspapiers gefordert. So kündigte Bart de Wever, der Chef der flämischen Separatistenpartei, an, dass »grundsätzliche Anmerkungen« zum Vermittlungsvorschlag notwendig seien, damit die Gespräche weitergehen könnten. Bevor die sieben in die Verhandlungen involvierten Parteien zusammenkommen, müsse »der Text angepasst werden«, so auch CD&V-Chef Wouter Beke. Knackpunkte für beide sind vor allem die Rechte der französischsprachigen Minderheit in Flandern und die Finanzierung der Hauptstadtregion Brüssel.
De Wever kann sich das leisten, schließlich ist er Chef der derzeit stärksten Partei in Belgien. Bei den Wahlen im Juni 2010 gingen 17,4 Prozent der Stimmen an die N-VA. Das sind 27 der 150 Sitze, 19 mehr als vor drei Jahren. In manchen Regionen Flanderns landete die N-VA sogar bei 40 Prozent der Stimmen, nachdem sie vor drei Jahren noch fast an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wäre. Wahlsieger De Wever kämpft für eine »belgische Evolution«. Die Zentralregierung soll nach seinen Vorstellungen ihre verbliebenen Schlüsselkompetenzen für Justiz und Sozialsysteme an die Regionalregierungen abgeben. Seine Pläne sehen vor, dass beide Landesteile ihre eigene Arbeitsmarktpolitik verfolgen und mehr Einfluss im Rechtssystem haben. Seine Partei will auf lange Sicht das wohlhabendere Flandern im Norden vom frankofonen Wallonien mit der hohen Arbeitslosigkeit trennen.
Die negative Reaktion der N-VA und der CD&V auf Lanottes Vermittlungsbemühungen wurde von den anderen Parteien kritisch gesehen. Die Grünen hatten als erste positiv auf das Arbeitspapier reagiert. Sie drängten auf schnelle neue Verhandlungen »mit dem Willen, es diesmal zu schaffen«, so Groen-Chef Wouter Van Besien. Die frankofonen Christdemokraten vom CdH (Centre Democrate Humaniste) kündigten zwar auch ein paar Änderungen an, doch forderten sie genauso wie die frankofonen Sozialisten PS und ihre Schwesterpartei SP.a zu schnellen institutionellen Reformen auf. Grundtenor aller fünf Parteien: Die mittlerweile um vier Monate unterbrochenen Verhandlungen müssen endlich wieder aufgenommen werden.
Es scheint, als stünde Belgien vor dem Abgrund, und derzeit steht nur fest, dass die Krise andauern wird. Niemand will Neuwahlen, darin sind sich ausnahmsweise alle Parteien einig. Denn es wird befürchtet, dass die politische Unruhe Belgien finanziell in den Bankrott treiben könnte: Das Land schiebt nach Griechenland und Italien den höchsten Schuldenberg in der Eurozone vor sich her. Er erreicht fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die andauernde politische Unruhe könnte das Land zum Ziel von Spekulanten machen.
Rechnerisch wäre auch eine Regierung ohne N-VA und CD&V möglich. Dazu müssten die Liberalen einbezogen werden. Der Chef der frankofonen Liberalen, Finanzminister Didier Reynders, lehnt dies auch nicht ab. Aber seine Partei hat einen starken Flügel, der frankofone Zugeständnisse bei den Minderheitenrechten ausschließt. Das erleichtert die Konsensbildung nicht. So wird in Belgien die Luft angehalten. Und alle warten gespannt auf die Antwort des Königs.
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