Die Frage, was vor 12 Uhr in der Zelle geschah

Beim zweiten Prozess um Tod von Oury Jalloh muss das Gericht über Mitschuld von Polizisten befinden

  • Hendrik Lasch, Magdeburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Landgericht Magdeburg hat gestern der zweite Prozess um den Feuertod des Flüchtlings Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle begonnen. Die Kammer steht vor einer harten Aufgabe – nicht zuletzt angesichts völlig unterschiedlicher Erwartungen.

Schon an den Haltestellen vor dem Landgericht in Magdeburg wurde gestern auf den Prozess hingewiesen, der vormittags in Saal 23 begann. Dort, wo sonst für Elektrogeräte und TV-Sendungen geworben wird, hieß es in großen Lettern: »Oury Jalloh – das war Mord.« Das ist der Slogan, mit dem eine vor allem aus Migranten bestehende Initiative seit Jahren das zähe juristische Bemühen begleitet, den Tod von Oury Jalloh zu erhellen. Der Flüchtling aus Sierra Leone starb am 7. Januar 2005 gegen 12 Uhr in Zelle 5 der Dessauer Polizeiwache – gefesselt an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze.

Wie es zu dem Feuer kam und ob der damalige Dienstgruppenleiter Andreas S. den Tod Jallohs durch schnelles Eingreifen hätte verhindern können, muss die 1. Strafkammer um die Vorsitzende Richterin Claudia Methling klären – im zweiten Anlauf. Zuvor hatten bereits Dessauer Richter das Geschehen zu rekonstruieren versucht. Nach 59 Prozesstagen wurden zwei angeklagte Polizisten im Dezember 2008 aber freigesprochen. Jalloh sei, nachdem er die Matratze mit einem bei der Durchsuchung vom damaligen zweiten Angeklagten offenbar übersehenen Feuerzeug angezündet hatte, einem Hitzeschock erlegen – weniger als zwei Minuten nach Anschlagen des Brandmelders. Selbst wenn S. diesen nicht zunächst zweimal abgestellt und anderweitig wertvolle Zeit verschenkt hätte, habe er Jalloh nicht retten können, so der Dessauer Richter.

Das Magdeburger Gericht muss das Zeitfenster nun erweitern. Der Bundesgerichtshof, der das Urteil im Januar 2010 kippte, verwies auf mögliche Schmerzenslaute Jallohs, die schon vorher über eine Gegensprechanlage zu hören gewesen sein müssten. »Ein Mensch zündet sich doch nicht an, ohne zumindest vor Schmerz zu schreien«, sagt Gabriele Heinecke, Anwältin von Jallohs Mutter und Bruder, die Nebenkläger sind, aber gestern wegen eines Visaproblems in ihrer Heimat zunächst nicht anwesend waren. Heinecke ist überzeugt, dass die Beamten »den Tod Jallohs über die Gegensprechanlage mithören konnten«. Womöglich müsse S. deshalb nicht nur, wie von der Anklage gefordert, wegen Körperverletzung mit Todesfolge, sondern sogar wegen Totschlags verurteilt werden

Die Verteidigung rechnet indes mit einem erneuten Freispruch für S. Die Bundesrichter hätten nicht die in Dessau zusammengetragenen Beweise, sondern nur deren Begründung im Urteil gerügt, sagt Anwalt Attila Teuchtler: »Hätte man sie ordentlich dargestellt, gäbe es keine Angriffsfläche.«

Im Dessauer Gericht seien längst nicht alle Beweise auf den Tisch gekommen und nicht einmal die richtigen Fragen gestellt worden, heißt es dagegen bei der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh«, die gestern eine Mahnwache organisierte und auch dort die Mordthese vertrat. Ihre Vertreter verweisen auf Ungereimtheiten, so die Frage, wie das Feuerzeug die enorme Hitze in der Zelle nur leicht beschädigt überstehen konnte, woher ein bei Jallohs Obduktion festgestellter Nasenbeinbruch stammt und ob kurz vor dem Feuer zwei Personen in der Zelle waren. »Das Gericht muss klären, was in der Zeit vor 12 Uhr passiert ist«, so Sprecher Marc Bellinghausen. Man hoffe, ergänzt Mouctar Bah, ein Dessauer Freund Jallohs, »auf neue Beweise, um später doch nach Mord recherchieren zu können.«

Ob es solche Hinweise gibt, werden auch Beobachter wie Eddie Bruce-Jones verfolgen. Der britische Anwalt gehört einer Kommission an, die Flüchtlingsinitiativen nach dem unbefriedigenden Dessauer Prozess einberufen hatten. »Unsere Hoffnungen ruhen weniger auf dem jetzigen Prozess«, sagt er; schließlich gelte die Anklage unverändert: »Danach aber muss über Rassismus und Vertuschung in der Polizei gesprochen werden.« Letztere hatte bereits den Dessauer Prozess belastet; der Richter hatte sich nach dessen Abschluss über Lügen der als Zeugen geladenen Polizeibeamten beklagt, die ein rechtsstaatliches Verfahren behindert hätten. Ob sich das in Magdeburg ändert, muss sich in den dort zunächst angesetzten 21 Prozesstagen nun zeigen.

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