Physik oder Politik? Kaczynskis Pilot entschied sich falsch

Der russische Untersuchungsbericht zum Absturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk lässt viele Fragen offen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Neun Monate nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk haben die russischen Ermittler am Mittwoch einen technisch gehaltenen Untersuchungsbericht vorgelegt, ihn aber seltsam psychologisch interpretiert. Unterm Strich bleibt: Die Piloten handelten politisch, doch die Gesetze der Physik erwiesen sich als stärker.

Das Letzte, was man aus dem Cockpit der »Polish Air Force 101« zu hören bekam, war ein ebenso unflätiger wie unvollendeter Fluch: »Kurwaaaaaaaaaaa....« Keine zwei Sekunden hat er gedauert. Ein Knirschen und Splittern überlagert die Stimme des Piloten. Der Flugschreiber dokumentierte das Ende der Aufzeichnungen um 10:41:04,6 Uhr.

Es war der 10. April 2010. Rund 300 Meter vor und versetzt zur Landebahn des Militärflugplatzes Smolensk-Sewerny schlug die TU 154M auf. An Bord war – neben Präsident Lech Kaczynski und etlichen anderen Würdenträgern – fast die komplette Militärführung Polens. Sie wollten zur Gedenkfeier für die vom sowjetischen NKWD bei Katyn ermordeten polnischen Militärs. Im Vorfeld hatte es Gerangel um die Teilnahme des ersten Mannes aus Warschau gegeben.

Keiner der 96 Insassen überlebte. Das Trümmerfeld sowie die Daten der Flugrekorder geben weiter Rätsel auf, die sich mit zahlreichen weiteren unbeantworteten Fragen verbinden. Mutmaßungen bis hin zu Verschwörungstheorien bekommen Nahrung – obwohl der russische Abschlussbericht sehr detailliert und (in der englischen Übersetzung) 184 Seiten stark ist. Es hilft auch nicht, dass die Experten extra eine fast 100 Megabyte- Computersimulation beigaben.

Vermutlich deshalb bemühte sich die Vorsitzende des Zwischenstaatlichen Luftfahrtkomitees MAK, Tatjana Anodina, den Medien griffige Argumente anzubieten. Dichter Nebel und tiefe Wolken hätten eine Landung unmöglich gemacht. Die Anwesenheit des Luftwaffenchefs (»Blutalkoholgehalt 0,6 Promille«) und des Protokollchefs im Cockpit habe psychologischen Druck auf die Crew ausgeübt und zur Entscheidung beigetragen, »eine Landung unter nicht angemessenen Bedingungen« zu wagen. Die »erwartete negative Reaktion des wichtigsten Passagiers« – Anodina nannte Kaczynski nicht ausdrücklich – habe ein Übriges bewirkt. Bemängelt werden »beträchtliche Defizite« bei der Vorbereitung des Fluges. Das alles ist nicht falsch, doch nur ein Teil der Wahrheit, da man die höchst diskutablen Gegebenheiten auf dem russischen Militärflughafen unbeachtet lässt.

Trotzdem muss man sich fragen, wieso die Besatzung zwar beim Anflug extrem lange Autopiloten vertraute, aber nicht reagierte, als das Warnsystem TAWS mehrmals »Gelände voraus« meldete. Nicht einmal als das TAWS eindringlich ein Dutzend mal »Pull up« ins Cockpit schrie, zogen die Piloten, deren Anflug viel zu tief war, ihre Tu 154M hoch. Wieso glaubten die Piloten dem Radarhöhenmesser und ignorierten den gemessenen Luftdruck? Wussten sie nicht, dass in Anflugrichtung eine tiefe Senke liegt, die alle Radar-Höhenangaben obsolet macht? Warum flog die Maschine, deren Klappen ausgefahren waren und wie eine Art Baumrechen wirkten, mit einer Geschwindigkeit von acht Metern pro Sekunde? Das war doppelt so schnell, wie das Landeregime vorschreibt. Warum reagierten die Fluglotsen nicht? Klar, ihre RSP-6M2-Radaranlagen sind nicht sehr präzise und gleichen das Fehlen eines Instrumentenlandesystems keineswegs aus. Doch den Tower-Hinweis, die Landebahn sei frei, können die Anfliegenden unmöglich als Verbot für eine Landung aufgefasst haben. Natürlich wäre das meteorologisch vernünftig gewesen, doch aus politischen Gründen wäre ein solches Verbot nie ergangen. Russland konnte es sich nicht leisten, Kaczynski und Gefolge von Katyn abzuhalten.

Eine russische Birke beendete den Flug. Die Tupolew kippte seitlich erst um 90, dann um 180 Grad. Der Auftrieb brach ab, weitere Bäume – allesamt kaum 3 Meter hoch – zerlegten das Flugzeug.

Die Geschichte von Smolensk-Sewerny wird mit dem Absturz von Polish Air Force 101 belastet bleiben. Dabei gibt es ganz andere Traditionen. Am 1. Mai 1922 eröffnete die UdSSR ihre erste internationale Fluglinie. Der Jungfernflug ging von Moskau über Smolensk und Kowno nach Königsberg. Zu den ersten bekannten Passagieren, die auf dem Smolensker Flugfeld abgefertigt wurden, gehörten die Poeten Sergej Jessenin und Wladimir Majakowski. Seite 8

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