»Wir wollten ein Fenster sein«

Vor 40 Jahren entstand in Leipzig die Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« – ein Gespräch mit den Gründern

  • Lesedauer: 7 Min.
Burkhard Glaetzner
Burkhard Glaetzner

Was da mit der Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« aus gutem Boden wuchs, das war einmalig in der DDR. Wer waren die treibenden Kräfte?

Friedrich Schenker: Burkhard Glaetzner und ich. Wir sprachen aber die Leute an, die uns geneigt waren. Durch Herbert Kegel – er hat in der DDR die meiste zeitgenössische Musik aufgeführt – sind wir animiert worden, auch im Denken. Wir wollten eben noch ein bisschen mehr Gegenwartsmusik.

Burkhard Glaetzner: Wir kamen frisch von der Hochschule und suchten nach Spielmöglichkeiten. Die lagen damals genau so wenig auf der Straße wie heute. Es waren eigene Konzepte gefragt: Wie will ich mit dem, was ich an der Hochschule gelernt habe, umgehen? Wie kann ich das brauchen? Da kam die Idee auf, das Gebiet der Neuen Musik mit zu bearbeiten. Es war keineswegs so, dass wir nicht gewusst hätten, worauf wir uns einließen. Wir hatten wenig Repertoirekenntnisse, wir hatten wenig Kenntnisse über den Stand der Neuen Musik international. Das musste alles erst Schritt für Schritt erarbeitet werden. Aber im Vordergrund stand die Spielfreude, der Spielwitz, die Betätigungslust von acht jungen Musikern.

Wie sah das Grundkonzept aus?

Glaetzner: Die Grundidee war klar: Wir wollten uns einmischen in die Diskussion um Neue Musik. Am wichtigsten: Wir wollten den Komponisten unserer Generation, zu denen wir sehr schnell intensive Kontakte aufbauen konnten, ein Forum sein. Und wir wollten aufmerksam machen auf außerhalb der DDR entstandene Kompositionen, die weitgehend im öffentlichen Konzertbetrieb fehlten. Wir wollten ein Fenster sein, in das wir Neues, Fremdes, Unerhörtes stellen.

Sie gaben der Gruppe den Namen »Hanns Eisler«. War das ein »Feigenblatt«?

Schenker: Von Eisler gibt es viele Schriften und manche Äußerungen über die Dummheit in der Musik. Das hat uns mehr interessiert, als dass wir Eisler von allen Komponisten am meisten hätten spielen wollen. Man braucht eine Galionsfigur. Man darf auch nicht vergessen, dass wir das, was wir machten, 1970 nicht ohne gewisse Institutionen des Staates machen konnten. Nach den Konzerten gab es immer noch Diskussionen. Da brachen durchaus noch die Fronten zwischen den altstalinistisch gebildeten Herren aus der Musik und uns auf. Der Skandal hat uns aber nicht geschadet, sondern eher bekannt gemacht.

Glaetzner: Dieses Wort vom »Feigenblatt« sprach Erhard Ragwitz aus, damals Vorsitzender des Leipziger Komponistenverbandes. Er stand auf in einer Diskussion nach unserem ersten Konzert und sagte wörtlich: »... nachdem der spätbürgerliche Staub hier von den Wänden gerieselt ist und der Name Hanns Eislers als Feigenblatt missbraucht worden ist ...«. Das machte die Runde. Hinter der Namensnennung Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« war eben auch ein Stück politische Klugheit.

Die Gruppe, eben gebildet, hat sofort Interessen und Wünsche auf den Plan gerufen.

Glaetzner: Die äußerst fruchtbare, bereichernde Verbindung zwischen uns Interpreten und zahlreichen Komponisten kam schnell zustande. Wichtiger war aber, dass die Konzerte von Anfang an auf ein reges Interesse im Publikum gestoßen sind. Das gab uns recht in der Prämisse, dass Neue Musik eine politisch-gesellschaftliche Dimension haben kann, wenn man es richtig anfängt.

Von wem wurden die Kompositionsaufträge bezahlt, die Sie erteilt haben?

Glaetzner: Wenn ich mich recht erinnere, blieb die übergroße Mehrzahl der Kompositionen ohne Auftragshonorar. Natürlich bemühten wir uns um einzelne Aufträge durch Rundfunk, Komponistenverband, Stadt Leipzig. Auch der Deutsche Verlag für Musik hat vereinzelt Aufträge vergeben. Aber weder für die Komponisten noch für uns hatte Geld je einen wesentlichen Stellenwert.

Alle hatten ihre festen Stellen.

Schenker: Existenzängste kannten wir nicht. Immer wenn ich mit Kollegen aus der Bundesrepublik zusammen war: Mensch, ihr habt’s gut, wir müssen neben dem Komponieren noch unterrichten und anderes machen. Das war bei uns eigentlich nicht nötig. Natürlich hat der Staat das Geld bezahlt, die Aufträge waren trotzdem keine Reglementierung für den Komponisten. Da hatten wir einen gewissen Freilauf.

Mussten Sie Konzepte vorlegen für die sechs Programme, die Sie jährlich musiziert haben?

Glaetzner: Nein, wir waren vollkommen frei. Im Vorfeld von Konzerten gab es mitunter Aufregungen. Aber wir haben unsere Programme gemacht und Veranstalter gefunden, die sie uns abgenommen haben. Es hat uns nie jemand hereingeredet.

Über zwanzig Jahre existierte die Gruppe. Welches war das wichtigste Konzert, das einschneidendste, das erstaunlichste?

Glaetzner: Das waren die Konzerte mit szenischer Kammermusik, allen voran das Instrumentaltheater »Missa nigra« von Fritz Schenker.

Die Leipziger Uraufführung im Februar 1979 überstieg alles Dagewesene. Am Anfang eine donnernde Prozession. Maskierte Musiker mit Blut an den Gewändern und sonstige Teufeleien. Am Schluss ein Galgen mit schnarrenden Aufziehpuppen.

Glaetzner: Das war bestimmt der Höhepunkt unserer Arbeit, wo wir auch künstlerisch auf ganz neue Arten gefordert waren. Der Inhalt war so brisant, dass es zu heftigsten Auseinandersetzungen geführt hat.

Schenker: Zum Beispiel gab es Differenzen zwischen Bezirksleitung der SED und Stadtleitung der SED. Bernd Pachnicke, seinerzeit Leiter des Peters Verlages – wahrscheinlich hatte er gute Beziehungen zur Bezirksleitung –, der wollte das Stück nicht unterstützen wegen dieses aggressiven Pazifismus, den es hat. Dann bin ich zum Deutschen Verlag für Musik gegangen. Gunter Hempel, dessen Leiter – er hatte seinerseits Beziehungen zur Stadtleitung der SED –, hat die »Missa« gemacht. Roland Wötzel, der 1. Sekretär der Stadtleitung, war denn auch bei der Uraufführung dabei.

Glaetzner: Nach meiner Erinnerung war er in der Generalprobe dabei. Die »Missa« war das einzige Programm, das absolut auf der Kippe stand. Herr Wötzel hatte in kulturpolitischen Fragen eine wichtige Funktion. Er ist in die Generalprobe gekommen und hat sich das angesehen, weil im Vorfeld schon eine heftige Diskussion um dieses Stück entbrannt war. So, wie eine autoritäre Gesellschaft dieses Zuschnitts funktionierte, hing das Wohl und Wehe von einer solchen Meinung ab: entweder Daumen hoch oder Daumen runter. Wötzel hat den Daumen nach oben gehalten und gegen alle Widerstände die Aufführung stattfinden lassen.

Mit dieser rigiden Antikriegs-»Missa« auf Texte von Alfred Polgar, Heiner Müller, Theodor Körner u. a. wurden Sie auch international bekannt.

Schenker: Nach Leipzig haben wir es in der Bundesrepublik aufgeführt, aber auch in Frankreich, der Schweiz, in Italien und anderswo. Manche sagen, wir hätten da eine Alibifunktion gehabt. Das kann stimmen, muss aber nicht. Am Anfang waren ja unsere Reisen in den Westen immer noch ein »bisschen begleitet«, später sind wir immer alleine gefahren, ohne »Begleitperson«.

Warum wurde die Gruppe 1993 aufgelöst?

Glaetzner: Ich war einer derjenigen, die die Auflösung am heftigsten betrieben haben. Ich war fest davon überzeugt, dass der Auftrag, den wir uns selbst gegeben haben, erfüllt gewesen ist. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten war das Ausgegrenztsein aufgehoben. Nicht bedacht hatte ich allerdings, dass das Vergessen schnell geht, und wir auch gegen diese Form des Vergessens anarbeiten müssten. Die Kultur des Widerstandes, des Widerstehens, des Erinnerns und Weitertragens braucht Menschen, die es tun. Vielleicht hätten wir, trotz aller inneren Probleme, hier doch noch eine wichtige Aufgabe gehabt.

Gespräch: Stefan Amzoll


Sie kam einst in Leipzig zur Blüte und machte über zwei Jahrzehnte dem Namen »Neue Musik« alle Ehre. Sie stieg gleichsam mit Hanns Eisler in das avantgardistische Boot, ohne je die ästhetisch-politische Denklust des Schönberg-Schülers und Kommunisten über Bord gehen zu lassen. Die Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« mit Burkhard Glaetzner (Oboe), Axel Schmidt (Englisch Horn) Friedrich Schenker (Posaune) – als komponierendes Mitglied schuf er selbstredend die meisten Kompositionen für die Gruppe –, Matthias Sannemüller (Viola), Wolfgang Weber (Violoncello), Dieter Zahn (Kontrabass), Gerhard Erber (Klavier) und Gerd Schenker (Schlagzeug) existierte immerhin über 20 Jahre.

Gegründet wurde sie am 17. Dezember 1970. An diesem Tag trat das Ensemble in der Leipzig-Information erstmals an die Öffentlichkeit. Auf Initiative von Glaetzner und Schenker hatten sich vornehmlich Mitglieder des Rundfunksinfonieorchesters Leipzig zu der Formation zusammengetan. Unterstützt wurde die durchaus riskante Unternehmung vom Deutschen Verlag für Musik Leipzig. Ein folgenreicher Einstieg. Denn fortan trieb die Gruppe wirklich Neue Musik in der DDR voran.

Nicht nur in der Bach-Stadt Leipzig, ihrem Entstehungsort, transferierte die Gruppe intrigant, ja offen provozierend die Moderne ins Bewusstsein einer kritischen Öffentlichkeit. Sie betrieb dies gleichermaßen bei ihren zahlreichen Auftritten im In-und Ausland. Im Westen wurde sie bisweilen bestaunt wie ein Rudel Zebras im Naturpark. Was heute aus dem Bewusstsein verschwunden ist: Die Eisler-Gruppe war lange vor dem Ensemble Modern da, lange vor dem Ensemble Recherche, lange vor dem Klangforum Wien. Diese später renommierten Vereinigungen wurden in den 1980er Jahren gegründet.

Glaetzner und Schenker konzipierten die Programme, sie erteilten Aufträge und bestimmten in der Folgezeit maßgeblich die Entwicklung der Gruppe.
Stefan Amzoll
1980, Leipzig: Schenker, maskiert, bei einer Aufführung seiner »Missa nigra«
1980, Leipzig: Schenker, maskiert, bei einer Aufführung seiner »Missa nigra«
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