Abgang eines einstigen Hoffnungsträgers
Tunesiens Präsident Ben Ali beugt sich dem Druck der Straße und verlässt das Land / Der politischen Öffnung folgte eine Politik der harten Hand
Durch Tunis läuft ein Mann mit einem selbst geschriebenen Plakat: »Yes, we can!« Stundenlang geht der etwa 60-Jährige vorbei an Soldaten und Polizisten in Uniform und Zivil. Seelenruhig, wie es scheint, aber in seinem Inneren brodelt es. »Ich will es wissen. Ich will mich selbst davon überzeugen, dass es vorbei ist, dass wir hier endlich sagen können, was wir denken.« Niemand behelligt ihn. Er wird nicht verhaftet und kann es gar nicht richtig glauben.
Tunesiens Präsident Ben Ali ist weg, außer Landes. Dem Druck der Straße konnte er nicht standhalten. Dabei hatten die Tunesier anfangs große Hoffnungen in Zine El Abidine Ben Ali gesetzt. Im November 1987 hatte dieser nur fünf Wochen, nachdem er vom damaligen Staatschef Habib Bourguiba zum Regierungschef ernannt worden war, diesen durch einen kalten Putsch abgelöst. Die Menschen jubelten und sahen zunächst auch ihre Forderungen erfüllt. Der politischen Öffnung folgten wirtschaftliche Reformen, die das Land voranbrachten.
Als erste bekamen die Islamisten die harte Hand Ben Alis zu spüren. Er ging restriktiv gegen sie vor, verbot die Partei »En Nahdha« (Die Wiedergeburt), trieb deren Führer Rachid Ghanouchi ins englische Exil und warf Tausende seiner Anhänger ins Gefängnis. Die Mehrheit der Tunesier stand dabei hinter ihrem Präsidenten. Das änderte sich, als sich die Verfolgungen auf die demokratische Opposition, linke Gruppen und Gewerkschaften ausdehnten. Der ehemalige Geheimdienstchef und Innenminister machte unliebsame politische Gegner mundtot, sie und ihre Familien wurden mit »unappetitlichen« Mitteln eingeschüchtert und bedroht.
Wer dennoch Widerstand leistete und nicht ins Ausland flüchtete, kam ins Gefängnis – oft mit Hilfe konstruierter Anklagen wie angeblicher Devisen- oder Steuervergehen. Anwälte prangerten immer wieder Folter und auch Mord an politischen Gefangenen an. Mit einem allgegenwärtigen Spitzelsystem kam Ben Ali jedem, der auch nur die kleinste Kritik übte, auf die Spur. Irgendwann reichte das Misstrauen sogar bis in die Familien hinein.
Dabei bediente sich Ben Ali der bis ins kleinste Dorf reichenden Strukturen seiner Regierungspartei, der Demokratischen Konstitutionellen Sammlungsbewegung (RCD). Der gesamte Staats- und Verwaltungsapparat, Justiz und Medien standen unter seiner Kontrolle. So »gewann« er fünf Mal bei Präsidentschaftswahlen und sicherte sich die Mehrheit im Parlament. Den von ihm ausgesuchten legalen Oppositionsparteien gestand er 20 Prozent der Sitze zu.
Begleitet war diese autoritäre Politik von einem Personenkult nach Ceausescu-Art. Das Portrait des »wohlwollend dreinblickenden Landesvaters« musste nicht nur überlebensgroß an Häuserwänden prangen, sondern auch in jedem Büro, Geschäft und Kiosk hängen. Der allmorgendliche Blick in die gleichgeschalteten Zeitungen versprach stets mehrere Photos des Diktators – immer von oben auf seine Untertanen herabblickend. Diese verordnete Anhimmelung wurde auch gegenüber der First Lady erwartet. Laila Ben Ali schacherte ihrer Familie Posten und Privilegien zu. Aus dem unbedeutenden Clan Trabelsi wurde binnen weniger Jahre die reichste und meist gehasste Familie Tunesiens. Gemeinsam mit einer handvoll anderer Clans bemächtigten sie sich der Kontrolle über die Wirtschaft und teilten die Reichtümer des Landes unter sich auf. Durch »kalte« Enteignungen rissen sie sich florierende Unternehmen unter den Nagel oder schalteten Konkurrenten aus. Zahlreiche profitable Geschäfte des tunesischen Staates mit dem Ausland liefen über die Kanäle dieser Familien, die dafür entsprechende »Gewinne« einkassierten.
Obwohl diese Zustände ein offenes Geheimnis waren, konnte sich das Regime der Rückendeckung aus dem Ausland sicher sein. Ben Ali, der als Offizier seine Ausbildung in den USA und Frankreich absolviert hatte, machte sein Land zum »Musterschüler« der Region. Die Wirtschaft wurde auf die Interessen vor allem der europäischen Partner ausgerichtet. Als erstes Maghrebland unterzeichnete Tunis mit der Europäischen Union in den 90er Jahren ein Assoziierungsabkommen, das 2008 voll in Kraft getreten ist. Darin werden günstige Investitions-, Kapitaltransfer- und Zollbedingungen festgelegt. Die ebenfalls darin angesprochenen Menschenrechtsklauseln wurden von europäischer Seite nie ernsthaft eingeklagt. Stattdessen punktete Ben Ali damit, Tunesien um jeden Preis von Islamisten frei zu halten und massiv gegen »illegale« Migranten aus Afrika vorzugehen.
Tunesien war das erste Land der Region, in dem Auffanglager eingerichtet wurden. Die westlichen Regierungen unterstützten zur Verteidigung des Regimes dessen Argumentation, eine für arabische Länder beispielhafte Gesetzgebung zum Schutz der Frauenrechte zu garantieren und ein hoch entwickeltes Gesundheits- und Bildungssystem aufgebaut zu haben. Vor allem letzteres ist jedoch Ben Ali schließlich zum Verhängnis geworden. Er verweigerte seiner exzellent ausgebildeten Bevölkerung die grundlegendsten Bürgerrechte. Schließlich hat die hohe Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen das Fass zum Überlaufen gebracht. Wie groß die Frustration über die Verhältnisse auch in den anderen Teilen der Bevölkerung war, hat die rasche Solidarisierung etwa durch Anwälte, Ärzte, Lehrer und Gewerkschafter mit der spontanen Protestbewegung gezeigt, die schließlich den allmächtig scheinenden Diktator hinweggefegt hat.
Chronologie
20. März 1956: Nach 75 Jahren unter französischer Kontrolle wird Tunesien unabhängig. Habib Bourguiba wird zum Ministerpräsidenten ernannt.
25. Juli 1957: Tunesien wird Republik und Bourguiba zum Präsidenten gewählt.
19. Juli 1961: Bourguiba verlangt, dass die französischen Truppen den Marinestützpunkt in Bizerte im Norden Tunesiens verlassen. Es brechen Kämpfe aus, bei denen 1000 Menschen getötet werden.
7. November 1987: Ministerpräsident Zine el-Abidine Ben Ali setzt Bourguiba ab und ergreift die Macht.
2. April 1989: Ben Ali gewinnt die Präsidentschaftswahl.
20. März 1994: Wiederwahl Ben Alis.
25. September 1999: Ben Ali sichert sich mit einem Wahlergebnis von 99,44 Prozent eine dritte Amtszeit.
11. April 2002: Bei einer Bombenexplosion auf der Insel Djerba werden 21 Menschen getötet, darunter 14 deutsche Touristen.
27. Mai 2002: Ben Ali gewinnt ein Referendum über eine Verfassungsänderung, die ihm erlaubt, erneut anzutreten.
24. Oktober 2004: Ben Ali gewinnt mit 94,48 Prozent eine vierte Amtszeit.
Januar bis Juni 2008: In der Region Gafsa kommt es zu vereinzelten Demonstrationen. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wird am 6. Juni ein Demonstrant erschossen.
Oktober 2009: Ben Ali sichert sich bei Wahlen eine fünfte Amtszeit.
19. Dezember 2010: Wegen Arbeitslosigkeit und hoher Lebensmittelpreise kommt es im gesamten Land zu Unruhen und Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Im Januar gehen die Proteste weiter, mindestens 66 Menschen kommen ums Leben.
14. Januar 2011: Ben Ali verlässt das Land. Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi übernimmt übergangsweise die Amtsgeschäfte.
15. Januar 2011: Parlamentspräsident Foued Mebezza als wird vom Verfassungsrat als Übergangspräsident eingesetzt.
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