Rache oder Politik?
17 Kurden in Stuttgart vor Gericht
Was geschah am Abend des 8. Mai 2010 in der Lokalität Barfly in der Innenstadt von Nürtingen? Diese Frage sollen zwei Gerichtsprozesse klären, die gerade in Stuttgart begonnen haben. Angeklagt sind insgesamt 17 Männer und Jugendliche kurdischer Herkunft im Alter zwischen 18 und 33 Jahren. Sie sollen vermummt und mit Eisenstangen und Baseballschlägern bewaffnet die von türkischen Nationalisten häufig besuchte Lokalität gestürmt haben. Dabei wurden drei Gäste und der Wirt am Kopf verletzt und mussten ärztlich behandelt werden. Nach der Version der Anklagebehörde hätten die Beschuldigten bei dem Überfall tödliche Verletzungen in Kauf genommen. Deshalb sind alle Männer wegen versuchten Mordes und schweren Landfriedensbruchs angeklagt.
Das Verfahren gegen neun zur Tatzeit erwachsene Männer begann am 13. Januar mit einem großen Sicherheitsaufwand. Die jugendlichen Beschuldigten stehen seit dem 17. Januar in einem abgetrennten Verfahren vor Gericht. Für beide Prozesse sind Termine bis Mitte März anberaumt. 49 Zeugen sollen vernommen werden.
Die Staatsanwaltschaft sieht in dem Überfall einen Racheakt, weil wenige Tage vor der Aktion einige der Angeklagten mit Verweis auf ihre angebliche Nähe zur kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aus dem Lokal gewiesen worden seien.
In der Stuttgarter Lokalpresse wurde diese Lesart weitgehend unkritisch übernommen. Hier ist von einem »Prozess um Ehre und Stolz« die Rede. Außerdem wurde die Aktion als Beispiel für kurdische Gewalt in deutschen Städten angeführt. Schon 2009, lange vor der Aktion, warnte die Landespolizei vor der Zunahme kurdischer Gewalt und kündigte harte Reaktionen an.
Kritik an Ermittlungen
Ein Bündnis kurdischer und türkischer Initiativen und Antifagruppen widerspricht dieser Lesart und sieht in dem Verfahren eine Fortsetzung der Verfolgung kurdischer Linker durch deutsche Gerichte. In einem Aufruf kritisiert der Solidaritätskreis die Ermittlungen. Die Polizei habe die Aktion genutzt, um kurdische Strukturen zu durchleuchten. So wurden im Sommer 2010 die Wohnungen von ca. 40 kurdischen Familien im Raum Stuttgart durch ein Sondereinsatzkommando (SEK) durchsucht. Seitdem sitzen 17 junge Männer in ganz Baden-Württemberg verstreut in Untersuchungshaft. Das Solidaritätskomitee kritisiert auch die Art, wie die Polizei mehreren jungen Angeklagten eine Zusammenarbeit schmackhaft gemacht hat. Dabei sei die emotionale Bindung der Eltern an ihre Kinder ausgenutzt worden. Die Betroffenen und ihre Familien seien durch all diese Maßnahmen psychisch unter Druck gesetzt worden, so die Kritiker.
Zum Prozessauftakt gaben sich die Angeklagten und Unterstützer kämpferisch. Am 12. Januar hatte das Solidaritätskomitee eine Kundgebung in der Stuttgarter Innenstadt organisiert. Dort wurde auch ein kurzer Redebeitrag eines der jugendlichen Untersuchungsgefangenen verlesen. Er verglich darin das Stuttgarter Verfahren mit den Prozessen gegen linke Kurden in der Türkei. In den ersten Verhandlungstagen haben es die Angeklagten abgelehnt, sich zu den Tatvorwürfen zu äußern. Die Staatsanwaltschaft hat bei der Verlesung der Anklageschrift längere Haftstrafen für sie verlangt und eine Aussetzung zur Bewährung ausgeschlossen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.