Vor dem Fleisch-Gericht
Der Dioxin-Skandal und die 11. Feuerbachthese von Karl Marx
Die kommunistische US-Zeitung »People's Weekly World« veröffentlichte vor einigen Jahren einen Essay von Gene Gordon. Der kalifornische Schriftsteller verwies in seinem Text darauf, dass, wie immer man sich eine mögliche kommunistische Zukunft auch vorstelle, Einigkeit darüber herrsche, dass diese frei sein müsse von Grausamkeit. Und er warf die Frage auf, »ob eine der grässlichsten Grausamkeiten, die in unserer Zeit wuchert, unsere Zukunft verderben wird. Ich meine die Einkerkerung, Folterung und das Abschlachten von Milliarden und Abermilliarden Tieren.« Bringt uns der Dioxin-Skandal jetzt die Vorboten zumindest für diesen speziellen Teil des Kommunismus?
Immerhin hat für kommenden Sonnabend ein Bündnis von über 120 Organisationen zu einer Großdemonstration in Berlin aufgerufen, auf der eine neue Agrarpolitik eingefordert und gegen Massentierhaltung und Tierfabriken mobil gemacht werden soll.
Es wäre zweifellos aufschlussreich, in die aufgeflammte Kommunismus-Debatte den Aspekt einzubringen, ob die strukturelle Gewalt der heutigen Schlachthauskultur mit der Vision einer klassenlosen Gesellschaft vereinbar ist. Herbert Marcuse, neben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno einer der legendären Meister der Frankfurter Schule, antwortete jedenfalls auf die Frage, was denn nach Errichtung der befreiten Gesellschaft zu tun bleibe: »Die Tiere befreien natürlich.«
Die gegenwärtige, von der veröffentlichten Meinung nachgerade zum Volkszorn medialisierte Empörung über die Machenschaften der Tierausbeutungsindustrie stellt diese Schlachthauskultur jedenfalls nicht zur Disposition. Zwar richten sich die Vorwürfe auch gegen Massentierhaltung und industrielle Tier-»Produktion«. Aber vor allem deshalb, weil sie als begünstigende Faktoren in einem die Konsumenten betreffenden und offenbar auch bedrohenden Skandal ausgemacht wurden. In einem Skandal um Lebens-MITTEL, nicht um Lebe-WESEN.
Denn der Skandal um Letztere ist ein jahrzehntelanger und -alter, in dessen Gefolge Tiertransporte eigentlich ähnliche Blockadeaktionen auf sich ziehen müssten wie Castor-Transporte. Dieser Dauerskandal wird tagtäglich in den Auslagen der Fleischtheken und auf den Tellern der »Verbraucher« materialisiert – und ignoriert. In den Medien taucht er sporadisch auf und dann ganz schnell wieder ab. Ausbeutung, elendes Leben, qualvoller Tod von Millionen und Milliarden leidensfähigen Kreaturen waren und sind kein Fall für Volksempörung und Großdemonstrationen, denn sie bilden eine wesentliche Grundlage der Lebensweise dieser Gesellschaft.
Deshalb geht es beim aktuellen Furor auch nicht um einen Paradigmenwechsel, wie bisweilen suggeriert wird, sondern um die Bewahrung und Verteidigung der bisherigen Lebensweise. Es geht darum, auch künftig problemlos andere Lebewesen als Lebensmittel betrachten und konsumieren zu können. Ohne Gefahr für die Gesundheit – die eigene, versteht sich. Und möglichst auch ohne Gefahr für das eigene Gewissen.
Wer den Verzicht auf Fleisch – also einen wirklichen Paradigmenwechsel – propagiert, rührt an die Grundfesten des gesellschaftlichen Konsenses. Politiker wissen das. Sie wissen auch, dass die »Herstellung« von Fleisch nachgerade obszöne Mengen an Getreide, Wasser sowie anderen Ressourcen verschlingt und längst zum Klimakiller Nummer eins geworden ist. Und die Folgen des exzessiven Fleischverzehrs für die Gesundheit der Bevölkerung sind auch ohne zusätzliche Giftmischerei evident.
Doch das dreisteste Ansinnen, zu dem sich das politische Personal hinreißen lässt, betrifft bestenfalls eine zarte Reduzierung des Fleischkonsums. Die Krone der Keckheit ist die Beschwörung des »klassischen« Sonntagsbratens – einmal in der Woche Fleisch.
Das Ergebnis dieser artigen Agitation muss die Fleischproduzenten nicht besorgen: Allein zwischen Juli und September vergangenen Jahres wurden hierzulande so viele Schweine geschlachtet wie nie zuvor in einem Vierteljahr: mehr als 14,6 Millionen.
Natürlich sind die Kritik an der Massentierhaltung und die Forderung nach deren Abschaffung richtig. Nur, wie soll das funktionieren? Wir leben in einer Gesellschaft des Massenverbrauchs, der auf Massenproduktion beruht. Das gilt auch für die »Ware Tier«. Und deren industrielle Massentötung sowie »Verarbeitung« in den Schlachthöfen bedarf eines unablässigen Nachschubs durch die in den Tierfabriken betriebene Massenzüchtung und -haltung.
Seit zu Weihnachten 1865 die Schlachthöfe von Chicago, deren Fließbandtechnik den Autohersteller Henry Ford später zu seinem revolutionären Montageverfahren inspirierte, in Betrieb gingen, ist der Fortschritt unaufhaltsam. Fleisch essen ist Fortschritt. Viel Fleisch essen ist ein Indikator des Fortschritts, des Fortschritts der westlichen Lebensweise in der restlichen Welt. So entsteht ein riesiger Markt für die internationalen Fleischkonzerne beispielsweise in Schwellenländern wie Indien und China, die eigentlich auf eine jahrtausendealte Tradition der vegetarischen Ernährung zurückblicken.
Die neue Gier nach Fleisch trifft sich mit der alten Gier nach Profit. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO legte eine düstere Prognose vor, laut der die weltweite Fleisch-»Produktion« von derzeit 228 Millionen Tonnen auf 463 Millionen Tonnen im Jahr 2050 steigt. Tonnen. Die einzelne Kreatur zählt längst nicht mehr bei solcher Gigantomanie.
Derartige Fakten und Voraussagen lassen die angesichts des Dioxin-Skandals in Deutschland erneuerte Forderung nach einer bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft, nach Bauernhöfen statt Agrarfabriken wohl eher romantisch denn realistisch erscheinen.
Ohnehin wird sich die Aufregung wieder legen. Wie beim Rinderwahn, in dessen Gefolge die akute Gefahr für den »Verbraucher« vermutlich weit größer war, als sie sich derzeit darstellt. Doch BSE ist längst Geschichte. Und die Hoffnungen der einen, die zugleich die Ängste der anderen waren, es könnte sich etwas ändern beim Umgang mit der Ware Tier, diese Hoffnungen sind ebenfalls längst begraben. Kürzlich trafen sich in Brandenburg Landespolitiker zum öffentlichen Rindfleischmahl, um einen demonstrativen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen. Sozusagen die Tagung des Fleisch-Gerichts. Es wird auch zur Dioxin-Affäre sein definitives Urteil fällen: Weiteressen!
Indes: Niemand muss sich diesem Urteil beugen. Den auf gesellschaftlicher Ebene fehlenden Paradigmenwechsel kann, wer will, auf individueller Ebene vollziehen. Jederzeit. Ohne das Ende des laufenden oder den Anfang des nächsten Fleischskandals abzuwarten. Indem er/sie die Entscheidung trifft, Tiere künftig nicht mehr als Waren und als Lebensmittel zu betrachten, sondern als leidensfähige Lebewesen, die »nicht zwischen zwei Scheiben Brot gehören«, wie es mir einmal im Interview der US-amerikanische Philosoph Tom Regan sagte. Die Welt wird davon nicht verändert. Vorerst.
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern«, lautet die 11. Feuerbach-These von Karl Marx. Der marxistische Denker Ernst Bloch komplettierte sie durch die Wandlung eines Wortes: »... es kommt darauf an, sich zu verändern.«
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